Corona-Tagebuch: Realitätssinn statt blinder Staatsgläubigkeit

Seit einem Jahr lässt die Politik keine Gelegenheit aus, den Bürgern die Selbständigkeit abzutrainieren und auch vorher wurde es immer nannyhafter.

Wir haben Gurtpflichten, Tabaksteuern, Rauchverbote, Glücksspielmonopole, sogar eine Sondersteuer auf Bier gibt es und eine Milliarde andere Sachen, die Eigenverantwortung in allen möglichen Lebensbereichen ersetzen.

Bei Beginn der Pandemie haben die Volkserzieher erst richtig den Turbo gezündet. Und der brennt nach wie vor.

Du bist nichts, dein Volk ist alles und so weiter.

Und alle klatschen begeistert, weil sie Befehl und Gehorsam mit Solidarität verwechseln.

Keine guten Zeiten für den Liberalismus.

Ich bin gar nicht gegen jegliche Regeln, ich bin erst Recht nicht gegen sinnvolle Regeln zur Verhinderung von Infektionen in der aktuellen Pandemie. Ohne geht es nicht und ein Großteil der Leute braucht solche Regeln offensichtlich.

Seit Beginn der Pandemie kann man ja beobachten, wie die Leute sich vor allem an Regeln orientieren, statt ihr Hirn zu benutzen. Sehr deutlich wurde das, als die Maskenpflicht eingeführt wurde und von einem Tag auf den anderen niemand mehr Abstände eingehalten hat beim Einkaufen.

Wenn es darum geht, doch mal andere Menschen zu treffen, wird nicht überlegt, ob das wirklich sein muss, sondern man fragt sich: Was ist denn aktuell grade erlaubt, eigentlich?

Offenbar brauchen Menschen, vor allem deutsche Menschen (aber so viel anders sieht es im Rest der Welt ja auch nicht aus) möglichst viele Regeln, damit sie wissen, wie sie sich vernünftig verhalten sollen.

Aber kann man nicht Regeln finden, die ein gewisses Maß an Eigenverantwortlichkeit am Leben erhalten, statt jegliches eigenständige Denken kaputtzumachen?

Warum gibt es keine Regel wie „einmal im Monat darf man eben doch zwei Haushalte treffen, wenn man an zwei anderen Wochenenden gar keinen anderen Haushalt trifft“?

Ach, weil es nicht überprüfbar ist? Ja, als wäre es irgendwie überprüfbar, ob ich mich mit zehn Haushalten hintereinander statt gleichzeitig getroffen hätte…

Dazu ein aktuelles Zitat von Ministerpräsident Weil:

„Wir sind angewiesen auf die Bereitschaft der Bürgerinnen und Bürger, das öffentliche Leben in Niedersachsen in den nächsten zehn bis vierzehn Tagen so weit wie irgend möglich herunterzufahren.“

Quelle Internet

Ein wahrer Satz, der aber eigentlich schon die ganze Zeit gilt. Und genau so lange von der Landesregierung selbst nicht ernst genommen worden ist – und wohl auch jetzt nicht ernstgenommen werden wird. Man tut exakt nichts dafür, die Leute mitzunehmen.

Wäre dieser Satz vor einem Jahr gefallen, könnte man ihn sogar ernst nehmen. Dann würde man denken okay, die Regierung ist sich immerhin bewusst, dass sie die Bürger als Verbündete braucht. Damit kann sie offen und ehrlich an die Vernunft appellieren und die Vernünftigen sagen: Verstehe ich, ist logisch, ich leiste meinen Beitrag.

Aber aus heutiger Sicht denkt man nur noch: Ihr Spacken. Die 4-6 Wochen, die wir im Oktober alles herunterfahren sollten, sind inzwischen zu 21 Wochen geworden. Das haben wir alle im Hinterkopf, wenn wir solche neuen Zeitangaben bekommen und der „Befehl“, alles runterzufahren, ist ja auch praktisch der Gleiche. Es galt doch sowieso die ganze Zeit. Was zum Teufel möchte Weil mir also jetzt mit der Ansage eigentlich zu verstehen geben? Das das alles vorher irgendwie nur ein Witz war und sich außer mir keiner an irgendwas gehalten hat?

Sie nehmen ihre eigenen Regeln selbst nicht ernst – oder erwecken jedenfalls den Anschein. So auch bei den Ausgangssperren, die ja nun auch in Niedersachsen eine Option sind. Und mit der faktisch das alleinige Spazierengehen mit Abstand ohne jegliches Risiko verboten wird – weil man glaubt, dass sich Leute sonst nicht daran halten, Kontakte zu minimieren, denn das ist ja ohnehin eine seit einem Jahr geltende Regel. Sie nehmen ihre eigenen Regeln selbst nicht ernst.

Es gibt jetzt auch kein Terminshopping mehr. Beim Terminshopping konnte man quasi alleine in nem Laden einkaufen gehen. Nach menschlichem Ermessen kann man sich dabei nicht anstecken – wenn man wie vorgeschrieben eine Maske trägt und der Raum zwischendurch gelüftet wird. Sie nehmen ihre eigenen Regeln selbst nicht ernst.

Und deswegen fällt es mir und vielen anderen Bürgern, die eigentlich absolut verstehen, dass es bestimmte Regeln braucht und die jetzt gerade auch alle ziemlich beschissene Auswirkungen haben, zunehmend schwer, das immer diffuser wirkende Regierungshandeln noch ansatzweise ernstzunehmen.

Zumal ja jeder sieht, dass es auch herzlich wenig Erfolge bringt.

Wenn mans ich die Entwicklung der Zahl der Infektionsfälle ansieht, könnte man meinen, dass steigende Fallzahlen eine Folge des Lockdowns sind statt umgekehrt. Wir haben nach einem halben Jahr Lockdown mehr Fälle als jemals zuvor. Die Inzidenz im Landkreis hat gestern mit 117,5 ihren bisherigen Rekordwert erreicht.

Ja, dafür gibt es viele Gründe. Ja, es gibt auch Leute, die sich an nichts halten – gerade erst von ner Party in Neu Wulmstorf gelesen, wo 35 Leute zusammen gefeiert haben. Inzidenz dort momentan: 160.

Kann auch sein, dass es inzwischen mehr Leute geworden sind, die die Regeln nicht mehr akzeptieren. Weil sie in ihrer harten Form jetzt einfach viel zu lange gelten und sich abnutzen.

Das erklärt aber die explosionsartige Entwicklung nicht.

Die Zahl der vielen Schnelltests übrigens auch nicht.

Für mich sieht die Fallzahlkurve aus wie die Kurve in Großbritannien vor einer Weile, als dort die Mutation, die hier jetzt ihr Unwesen treibt, zugeschlagen hat. Mag sein, dass unser Lockdown die Kurve sogar noch abmildert – aber verhindern konnte er diese Welle ja offensichtlich nicht.

Und das darf vielleicht jetzt mal die Erkenntnis sein, auch wenn die niemandem gefällt (mir auch nicht): Der Staat kann so eine Pandemie nicht beherrschen. Kein Regelungskorsett der Welt kann das, es gelingt auch nirgends auf der Welt, jedenfalls nicht dauerhaft.

Hier prallen heftige deutsche Staatsgläubigkeit und die Realität aufeinander. Erinnert mich an die Klimapolitik, wo man sich ja auch gern einredet, dass man mit ein bisschen Emissionssparamkeit das Weltklima beherrschen könnte. Und sowohl bei der Klimapolitik als auch bei der Pandemie lässt man den Faktor Mensch komplett außer Acht.

Man tut so, als könnte man das Verhalten von Millionen oder Milliarden Menschen staatlich nach Belieben lenken. Man überschätzt maßlos den Einfluss, den man ausüben kann.

Und wenn man sich auf die Wirkung der eigenen Regeln verlässt, aber ignoriert, dass ihre Durchschlagskraft in der Realität viel kleiner sein kann, als auf dem Papier, dann erlebt man zwangsläufig Enttäuschungen.

Ich denke, man könnte von Regierungen erwarten, dass sie – zumal nach so langer Zeit, wo der Effekt ja immer wieder beobachtet werden konnte – allmählich mal ihren Realitätssinn schärfen und besser einschätzen können, was der Staat wirklich hinbekommt und wo Staatsgläubigkeit wirklich nur eine rein religiöse Geschichte ohne praktische Auswirkungen ist.

Wir müssen jetzt vielleicht mal mehr Realitätssinn statt blinder Staatsgläubigkeit wagen. Und eine Erkenntnis davon wäre, dass staatliche Regeln anders funktionieren, als zum Beispiel Naturgesetze wie die Schwerkraft.

Und das Menschen nach nem halben Jahr Lockdown ohne nennenswerte soziale Kontakte die Lust verlieren, ewig so weiterzuleben. Und jegliche Motivation dazu ohnehin, wenn sie gleichzeitig sehen, dass der Erfolg des Lockdowns Rekorde bei den Infektionszahlen sind, die Lage also trotz all der angeblich superwichtigen Verbote immer schlimmer wird statt, wie versprochen, besser.

Vielleicht wäre es auch nur mal ein Anfang, mit idiotischen Versprechungen aufzuhören wie dem, dass bald ganz sicher alles besser wird.

Wenn eins sicher ist, dann dass man absolut gar nichts sicher sagen kann. Man sieht als Regierung natürlich blöd aus, wenn man das nicht kann. Aber wenn man so tut als ob und sich dann ständig irrt, sieht man halt noch blöder aus.

Und dann glaubt einem keiner mehr irgendwas.

Oder glaubt irgendwer, dass wir in vierzehn Tagen hier das öffentliche Leben nennenswert hochfahren werden, wie Weils obiges Zitat ja eigentlich nahelegt?

Kein Mensch glaubt das, niemand.