Corona-Tagebuch: Normalität

Zwar überschlagen sich die Medien mit reißerischen Meldungen zu Corona. Neue Variante hier, steigende Zahlen da, Option auf Maskenpflicht seitens des Bundes, sodass die Länder das einfach einführen könnten.

Aber gleichzeitig sind Tests immer noch „nur“ Schnelltests von zweifelhafter Aussagekraft statt sofort PCR und gleichzeitig eben kostenpflichtig. Hamburg veröffentlicht selbst ab sofort gar keine Zahlen mehr. Die Auffrischungsimpfung mit dem aktualisierten Impfstoff kriegt man nach wie vor eigentlich nur, wenn man über 60 ist oder es so richtig drauf anlegt, ernsthaft vorgesehen scheint es nicht zu sein.

Die Schwurbelfront habe ich vor einigen Wochen wieder begonnen, etwas aufmerksamer zu verfolgen. Sprich: Telegram-Account wieder reaktiviert, denn wir nähern uns ja dem Winter und das scheint Schwurbelsaison zu sein. Man muss aber sagen, dass die ganze Szene inzwischen komplett umgesattelt hat. Corona ist dort zwar immer noch ein Thema, aber Putin-Bewunderei ist auf den Kanälen, die noch Anfang des Jahres nur Corona kannten, inzwischen absolut beherrschend. Meine Befürchtung ist längst, dass das, was mit etwas albernen „Spaziergängen“ im letzten Winter begann, in den nächsten Wochen noch einmal richtig gezündet und neu aufgelegt wird. Wir hatten glücklicherweise einen sehr milden Herbstbeginn und in der vergangenen Woche noch über 20°. Das scheint sich aber jetzt zu ändern und die kriegbedingten Preiserhöhungen spürt längst jeder – die werden mit jedem Grad Außentemperatur schmerzhafter und die gesamte rechtsextreme Szene wird das nach dem Testlauf mit Corona im letzten Jahr für ihre Zwecke zu nutzen wissen. Und wo man beim Corona-Thema zumindest noch so veranlagt sein musste, dass man jeden Bullshit glaubt, kann man sich beim Putin-Thema jederzeit in die Ausrede flüchten, dass man schon um der Energiepreise willen dringend Frieden wollen würde, auch wenn man eigentlich von der russischen Regierung und ihrem Krieg nichts halten mag. Das Radikalisierungspotenzial ist hier damit um ein Vielfaches größer, als bei den Covidioten. Und da empfand ich es schon als überaus alarmierend.

Wie dem auch sei: Von den Oberidioten abgesehen weiß eigentlich jeder: Corona ist nicht weg, es sterben Leute daran und man sollte vorsichtig sein, wenn man sich infiziert oder der Verdacht besteht. Aber abgesehen davon spielt Corona im Alltag überhaupt keine Rolle mehr – außer, man fährt mal Bus oder Bahn. Das sind die letzten Orte, an denen noch Maskenpflicht gilt, von bestimmten Einrichtungen mal abgesehen.

Am vergangenen Wochenende erlebte ich denn auch ein wieder völlig normales Wochenende auf dem Hamburger Kiez. Die Bars und Kneipen voll wie immer, die Straßen ebenso. Alles ohne Maske, alles ohne irgendwelche Kontaktverfolgungsmaßnahmen. Es fühlt sich alles an, wie vor der Pandemie.

Die Woche davor war Stichwahl zum Landrat. Ich war als Wahlhelfer im Einsatz aber auch hier spielte Corona keine Rolle mehr. Es gab zwar transparente Schutzwände und die Stadt hatte Tests und Masken bereitgestellt. Aber das war alles eher so pro forma. Bei der Wahl herrschte weder Masken- noch Testpflicht und auch wenn ein paar Leute mit Maske reinkamen, taten die allermeisten das nicht. Auch hier also im Prinzip Normalität. Und wenn auch künftig Leute mit Schnupfen oder anderen möglicherweise ansteckenden Dingen sich vorsichtshalber maskieren, hätte ich da nicht mal was gegen – aber das funktioniert anderswo ja auch seit hundert Jahren ganz ohne jeden Zwang, der ist also nicht nötig.

So richtig an ein Ende der Pandemie glaube ich zwar erst nach diesem Winter, wenn da nicht doch noch mit irgendwelchen Maßnahmen um sich geworfen wird. Man weiß ja nie. Aber nach Lage der Dinge sind wir jedenfalls jetzt grade durch damit, was den Alltag betrifft.

Mit Stand des 1. Novembers 2022 hat unser Landkreis 106.654 Fälle insgesamt erlebt, davon endeten 246 tödlich. Aktuell beträgt die Inzidenz 358, war zuletzt aber sinkend. Am 11. Oktober betrug sie zum Beispiel noch 960 bei knapp zweieinhalb tausend Infizierten. Aktuell sind wir bei unter tausend angekommen.

Von diesen Zahlen sollte man sich allerdings nicht weiter beeindrucken lassen, sie sagen über den Stand der Pandemie einfach nichts aus. Will sagen: Wenn es wurscht ist, ob wir bei Inzidenz 1000 oder 300 stehen, was offenbar der Fall ist, dann ist diese ganze Datenveröffentlicherei derzeit einfach nicht geeignet, daraus irgendwas Sinnvolles abzuleiten. Es wird mal besser und mal schlechter – eigentlich pendelt es sich auf einem gewissen Niveau ein und das tut es bundesweit. Und außer, dass die entsprechenden Institute dieses gewissenhaft mitschreiben, was ja einfach ihre Aufgabe ist, haben die halt keinerlei Bewandtnis mehr.

So wie vermutlich auch meine Einträge dieser lockeren Reihe hier. Es ist dann einfach mal so sehr vorbei, dass es im Alltag nichts Interessantes mehr zu beobachten gibt. Jedenfalls derzeit nicht. Natürlich schließe ich diese Reihe niemals komplett. Zum Jahresende werde ich wieder eine „Gesamtausgabe“ generieren und bei Archive.org und anderswo veröffentlichen, um den Zyklus zu komplettieren. Möglich, dass das hier dann der letzte Artikel für dieses Jahr oder sogar für immer ist – aber das wird man sehen.

Gleich zu Anfang der Pandemie wurde sich gerne die Frage gestellt, was wohl bleiben würde von der Pandemie. Ja, was? Ein reicher Schatz an zweifelhaften Erfahrungen. Leere Regale habe ich in meinem Leben noch nie in so einem Ausmaß erlebt. Dass das gesamte Leben still steht und das über Tage, Wochen, teils über Monate, wenn auch mit Abstufungen. Dass so viele eben noch vernünftige Menschen in die eine oder die andere Richtung durchdrehen, zu totalen Paranoikern werden oder die große Weltverschwörung am Werk sehen. Dass Jahre unseres Lebens wie im Pausenmodus stattfinden, weil das Sozialleben weitgehend abgeschafft wird.

Inzwischen bin ich sicher, dass zwar keine Regierung so richtig wusste, wie sich die Jahre 20-22 am Ende konkret gestalten würden, aber dass mit Sicherheit schon im März 20 klar war, dass allen Ankündigungen und Befristungen zum Trotz dieser Zustand eben nicht nach wenigen Wochen wieder beendet sein würde, sondern wir damit wahrscheinlich Jahre zu tun hätten. Man kann sich aber auch vorstellen, wie es gelaufen wäre, hätte man den Leuten damals schon erklärt, dass die Welt erst Jahre später wieder halbwegs zu dem Ort werden wird, den sie kannten.

Damals und auch in der Folgezeit wurde auch immer wieder gerne behauptet, dass die Leute ganz bestimmt ihre Lust verlieren würden, große Partys zu feiern und andere Massenveranstaltungen zu besuchen. Sowas wurde besonders oft im coronaversauten Sommer 2020 erklärt. Zu einer Zeit, wo ich mich gefragt habe, wie man eigentlich auf so eine dämliche Idee kommen könnte, wo doch eigentlich alle geradezu danach lechzen, endlich wieder ein Sozialleben führen zu dürfen. Heute wissen wir: Jup, das sieht die große Mehrheit der Leute auch so und kein Mensch wünscht sich heute diese ach so tolle, monatelange Vereinsamung von damals zurück.

Was bleiben wird, ist ein gewisser technologischer Fortschritt in der Gesellschaft. Denn auch wenn Videokonferenzen nichts neues sind, kannten verblüffend viele Leute dieses Konzept vor Corona überhaupt nicht. Heute kann jeder Dödel binnen fünf Minuten eine solche Konferenz veranstalten und die Tools dafür sind ja auch stark besser geworden.

Speziell in Deutschland hielt das Konzept Podcast mit der Pandemie gewissermaßen Einzug. Auch das etwas, das ziemlich viele Menschen auch das ein oder andere Jahrzehnt vor Corona gekannt und genutzt hatten – aber für die breite Masse war auch das offenbar was Neues. Ausgelöst vom Corona-Podcast mit Herrn Drosten, der bis heute durch diesen Podcast so eine Art polarisierenden Rockstar-Status genießt, den er nie haben wollte. Den Podcast gibts längst nicht mehr, jedenfalls nicht mit Drosten als ständigem Gast aber auch die Nachfolge-Formate senden inzwischen nicht mehr oder nur noch sehr selten. Allerdings haben wir ja seit Februar Krieg – und der hat die nächste Welle an Podcasts losgetreten, die sich eben mit dem Krieg beschäftigen. Gerade die öffentlich-rechtlichen haben dieses Mal hier keine zufälligen Erfolge erlebt, sondern ganz bewusst eine Auswahl unterschiedlicher Formate gestartet und darunter sind recht gute, die auch ich immer wieder mal nutze.

Was vermutlich auch mehr als früher bleiben wird, ist die Normalität von Home Office – jedenfalls dort, wo es funktioniert. Und teilweise dürften Leute, die sich leicht kränkelnd fühlen, etwas sorgfältiger darauf achten, sich von anderen Menschen fernzuhalten, als bisher – aber sicherlich auch nicht so, dass man auf diese Weise die nächste Pandemie automatisch eindämmen könnte oder so.

Insgesamt finde ich die bleibenden Dinge relativ unspektakulär und unter dem Strich hat sich diese Pandemie nicht gelohnt. So spannend es teilweise auch war, Politik und Gesellschaft in so einer Ausnahmesituation zu erleben, so richtig nötig hat das alles nicht getan.

Und ich hätte auch deshalb nichts dagegen, wenn es das jetzt dann endlich war mit Corona.