Corona-Tagebuch: Spaziergänger

Bis vor ein paar Wochen hatten wir alle es als spleeniges Ossiphänomen empfunden, das auf ein paar Großstädte auch im Westen übergegriffen war, aber spätestens seit Dezember wird gefühlt überall „Spazierengegangen“. So nennen sie ihre Demos, die Pandemieskeptiker.

Es klingt nach einer dieser sprachlichen Albernheiten, die diese Gruppe Leute praktisch rund um die Uhr von sich gibt. Corona wird dort zu Klorona (hihihihihihi.. seid ihr fünf Jahre alt oder was), Impfstoffe sind „Brühe“, „Jauche“ oder direkt „Gift“. Wer die Pandemie für ein reales Ereignis hält, ist selbstverständlich das klassische Schlafschaf, aber auch Balkonklatscher habe ich schon gelesen. Beides sind übrigens nicht nur zufällig Bezeichnungen, die wir rund um die Flüchtlingswellen vor ein paar Jahren schon regelmäßig gesehen haben, denn die personellen Überschneidungen sind nicht nur da, sondern sehr präsent und werden offensichtlich auch nicht großartig verschleiert.

Der Begriff „Spaziergang“ hat allerdings keinen Pipikackahumor-Hintergrund, auch wenn er so klingt. Sondern wenn diese Leute eine Demo anmelden, bekommen sie die mittlerweile schlicht nicht genehmigt, weil jedes einzelne Mal, wo so etwas jemals von diesen Gruppen genehmigt wurde (wir erinnern uns: das passierte praktisch das ganze letzte Jahr über ständig), sämtliche Hygiene-Auflagen vollständig ignoriert, beziehungsweise auch gerne mal verballhornt worden sind. Es war eigentlich sogar wesentlicher Inhalt dieser Demos, sich irgendwelche Spitzenhöschen vors Gesicht oder direkt nen ganzen Eimer über den Kopf zu ziehen. Nein, beide Beispiele habe ich mir nicht lustig ausgedacht, genau so lief das ab (okay, ihr seid also tatsächlich fünf Jahre alt, jedenfalls im Hirn).

Die – aus Schwurblersicht logische – Konsequenz war irgendwann, keine Demos zu organisieren und anzumelden, weil wird ja doch nichts. Dafür wird zu „Spaziergängen“ aufgerufen. Die sind nicht verboten und wenn ich es richtig mitbekommen habe, ist es verfassungsrechtlich auch sehr schwierig, sie zu verbieten. Bayern hatte das vorletztes Jahr zeitweise getan und dafür neben viel Spott auch entsprechende Urteile kassiert. Geht eben nicht, ist auch gut so – aber das nutzen die Schwurbler nun aus.

Was man aber tun kann ist, eine allgemeine Maskenpflicht bei jeglichen Versammlungen vorzuschreiben. Und das ist vermutlich bundesweit, aber zumindest hier bei uns derzeit der Fall: Wo 3 oder mehr Personen draußen zusammenkommen, hat man Masken zu tragen. Somit gilt das auch für jene Spaziergänge und weil die sich daran nicht halten, werden sie polizeilich relativ rigoros bekämpft.

Ich habe wirklich null Mitleid mit diesen Covidioten, ob das allerdings insgesamt eine zielführende Strategie ist, sei mal dahingestellt. Fakt ist, dass die Zielgruppe davon wohl erst recht angestachelt wurde und dass sich diese Spaziergänge inzwischen kreuz und quer durchs Bundesgebiet ziehen. Sie finden auch in keinen Orten statt, weil man braucht dazu ja nicht viel. Wenn sich 10-15 Leute finden, langt das bereits und man prahlt in sozialen Medien einfach ein bisschen damit rum. Wie lütt die Veranstaltung in echt ist, sieht dort ja niemand. Und wenn es nur ist, dass man sich in eine dieser Quarkdenker-Terminkalender einträgt und dann seinen Beitrag zu einer beeindruckend großen Zahl von Veranstaltungen dieser Art beiträgt, haben die ihre Wirkung ja schon erreicht.

Bei uns im Landkreis gibt es gleich mehrere Hotspots, an denen immer wieder spazieren gegangen oder das wenigstens angekündigt wird. Winsen ist natürlich einer davon. Das Wochenblatt berichtete Anfang Dezember von der ersten verbrieften derartigen Veranstaltung wie folgt:

„Etwa 40 Personen kamen in Winsen unter Federführung der Ratsfrau Helena Becker (Die Basis) zu einer Demo gegen den Impfzwang zusammen und zündeten Kerzen an. Allerdings suggerierte Becker, dass sie allein vor das Rathaus gekommen sei, um eine Kerze für den Frieden zu entzünden. Die anderen Leute seien nur zufällig vorbeigekommen, so die Ratsfrau. Ein Versammlungsteilnehmer drohte dem WOCHENBLATT-Reporter, ihm die Kamera aus der Hand zu schlagen und verlangte Fotos zu löschen. Ein Polizeibeamter beruhigte die Situation aber, bevor sie eskalieren konnte.“

Quelle: Wochenblatt

Ich denke, das beschreibt gut, mit was für einer Sorte Leute wir es zu tun haben und es erklärt auch gut, was für Nasen uns diejenigen in die kommunalen Vertretungen gewählt haben, die ihre Kreuze bei „Basis“ gemacht haben. Danke dafür, ihr Flachzangen.

Vorangetrieben wird die Spaziererei aber nicht nur von der „Basis“, sondern auch von Gruppen wie den „Freie Niedersachsen“. Die sind dem Vernehmen nach der hiesige Aufguss der „Freie Sachsen“ und die wiederum sind vom Verfassungsschutz als rechtsextremer Verdachtsfall eingestuft. Beide Gruppen verfolge ich übrigens sporadisch via Telegram. Ich sage mal so: Mit solchen Leuten gemeinsame Sache machen, das muss man auch erstmal wollen.

Für mich hat die Spaziergängerei am vergangenen Montag zu einer völlig neuen Erfahrung geführt, denn ich war zum ersten Mal in meiner eigenen Gemeinde demonstrieren. Denn damit sich die unangemeldeten Spaziergänger nicht am Rathaus versammeln können, hat das Bündnis „Winsen ist bunt“ genau dort genau jeden Montag abends um halb 7, eine Demo angemeldet. Die erste fand in der Vorwoche statt, da sollen 70-80 Leute dagewesen sein, die zweite war eben vergangenen Montag und da waren es nach offiziellen Angaben 120 Leute und ich war einer davon.

Es war nicht weiter spektakulär. Es gab ein paar Reden, teilweise war ein bisschen dummes Zeug darunter (bei Plädoyers dafür, die Patente für Impstoffe zu vergesellschaftlichen, frage ich mich immer, was das a) mit dem Aufstehen gegen „Spaziergänger“ zu tun hat und b) wer uns eigentlich in der nächsten Pandemie Impfstoffe in Rekordzeit entwickeln will, wenn nicht klar ist, ob er auf den Kosten am Ende vielleicht sitzen bleibt, weil ihm das Patent einfach genommen wird – und c) finde ich es einfach schade, mit solchen Themen diese Demos zu missbrauchen) aber insgesamt ging es wohl einfach nur darum, den Platz zu besetzen und den anderen damit die Bühne zu nehmen.

Was auch hingehauen hat. Man hörte zu Beginn einen Böllerschuss aus Richtung Schlosspark. Böller scheinen irgendwie normal zu sein bei den Spaziergängern, aber das passt ja irgendwie auch ganz gut zum intellektuellen und politischen Gesamtniveau dieser Leute. Mehr war von denen aber nicht zu hören und nicht zu sehen und die Polizei ging sehr entschlossen auf wirklich jeden zu, der sich der Demo vor dem Rathaus ohne Maske näherte. Ich stand ganz hinten und habe das deswegen bestens mitbekommen. Man wollte wohl jeden Versuch eines solchen Spaziergangs im Keim ersticken, was ich taktisch auch verstehe. Im Endeffekt hat die Polizei glaube ich die paar wenigen Spät-Shopper, die da noch unterwegs waren, teilweise etwas über Gebühr erschreckt, weil die echt nur kurz vorbei wollten. Aber wie gesagt: Taktisch verständlich und sicher richtig so.

Und es war reichlich Polizei da. Viel mehr, als zur Absicherung der Demo wirklich nötig gewesen wäre, es ging also vermutlich auch der Polizei eher um die Verhinderung irgendwelcher Spaziergänge. Ist natürlich aber ganz genauso ihr Auftrag.

Was hat mich am Ende bewogen, da hinzugehen? Ganz einfach die Erkenntnis, dass wir es hier mit einer grotesken und offensichtlich von rechtsextremen Gruppen initiierten beginnenden potenziellen Massenbewegung zu tun haben, die bis in kleinste Gemeinden hineinstrahlt. Es ist nicht neu, dass Rechtsextreme sich an die Spitze irgendwelcher Proteste setzen, sondern das versuchen die ja ständig. Wir hatten die „Todesstrafe für Kinderschänder“ der NPD, wir hatten die ausländerfeindlichen Proteste gegen Flüchtlinge, es gab rechtsextreme Gruppen, die die Eurokrise ausgeschlachtet haben und anschließend die Bankenkrise (Banken sind für die ja eh jüdisch und somit Teufelszeug, wie der Kapitalismus insgesamt) und natürlich wird auch Corona bereits seit Anbeginn ordentlich ausgeschlachtet.

Aber das hört eben für mich in dem Moment auf, ein vernachlässigbares Randphänomen zu sein, wo es auf weite Teile der Bevölkerung überzugreifen droht. Und dieser Moment ist jetzt gekommen, weil sich ganz viele Menschen zurecht mit vielen Maßnahmen nicht mehr abfinden mögen (in gewisser Weise zähle ich mich sogar selbst dazu, dieses „Tagebuch“ belegt meine Kritik ja massenhaft) und darum empfänglich sind für eine entsprechend geschickt gestaltete Rattenfängerei.

Die wiederum das Einzige ist, was Rechtsextreme wirklich gut können. Und das Thema Corona insgesamt und natürlich vorneweg die damit verbundenen Einschränkungen betreffen einfach absolut jeden – und zwar jeden nicht nur ein bisschen, sondern massiv. Ich glaube, es ist keine Übertreibung, zu sagen, dass wir zuletzt vor hundert Jahren einen ähnlich fruchtbaren Resonanzboden für extremistische Ideologie gehabt haben, denn damals hatten wir nach einem verlorenen Weltkrieg und anschließender kollektiver massenweiser Armut als Folge der Reparationen eine zwar absolut gesehen noch viel krassere Situation – die aber genauso umfassend wie heute die Coronapolitik jeden irgendwie betroffen hat und darum auch jeden irgendwie bewegt.

Und so sehe ich, allen qualitativen Unterschieden zur Situation vor hundert Jahren zum Trotz, hier gewisse Parallelen und daraus folgend auch ähnliche Gefahren. Ja klar, auf einem anderen Niveau und ich rechne auch nicht damit, dass es hier demnächst ein Viertes Reich gibt oder so. Alles nicht der Punkt. Aber der undemokratische Geist, der hinter diesem ganzen Gesülze dieser Leute steht, der darf niemals ein Massenphänomen werden. Schon gar nicht in meiner eigenen Stadt.

Das effektivste Mittel, dass mir dazu einfällt, ist, war und wird bleiben, Präsenz zu zeigen und damit zu beweisen, dass die Mehrheit es anders sieht. Dass die Mehrheit sicher ganz genauso jeden Tag struggelt, was Maßnahmen betrifft, genervt ist von all den Einschränkungen. Vieles auch sogar sehr kritisch sieht und nicht versteht und zurecht enttäuscht ist von verschiedenen Fehlleistungen der Regierungen in Land und Bund.

Aber dass sie eben trotz allem nicht den Verstand verliert, obwohl das so einfach wäre und eben am Schluss sehr wohl einsieht, dass man eine Pandemie nicht dadurch besiegt, dass man sie einfach ignoriert, wie sich die Spaziergänger das vielleicht vorstellen, sofern sie denn dort nur Mitläufer sind und keine politische Agenda verfolgen.

Wir, die vernünftige Mehrheit, müssen zeigen, dass wir viel größer sind, als jegliche Gruppe, die die Rattenfänger jemals auf die Straße bringen werden.

Deswegen stand ich Montag vorm Rathaus und deswegen werde ich dort auch nächste Woche wieder stehen.