Digitale Verwaltung 2022 am Beispiel Briefwahlunterlagen beantragen

Vor vielen Jahren habe ich mal das supersimple Verfahren gelobt, mit dem man in Winsen online Briefwahlunterlagen bestellen könnte. Man musste dazu eine sehr einfache (also eine „sprechende“) URL eintippen, dort seine Daten eingeben, absenden, fertig. Einen oder zwei Tage später waren die Unterlagen einfach da. Das war für mich bisher dieser eine Moment, an dem ich spürte, dass Digitalisierung tatsächlich Dinge einfacher machen kann, wenn man sie entsprechend einfach umsetzt. Es sah nicht hübsch aus, es fühlte sich auch damals irgendwie viel zu einfach an für einen digitalen Vorgang in einer deutschen Behörde. Aber es funktionierte.

Heute kamen Wahlbenachrichtigungen. Es stehen Landtagswahlen und Landratswahlen an. Wie gewohnt war unten ein QR-Code drauf, mit dem man zu „Wahlschein Online“ gelangen soll.

Angeblich.

Gut, wir wollen fair bleiben: Theoretisch gelangt man da durchaus hin.

Bitte warten und fein Werbung schauen.

Oder drücken wir es vorsichtiger aus: ICH gelange dorthin. Auch wenn ich dazu erstmal verstehen musste, dass diese mit Werbung vollgestopfte Seite, auf die einen der offizielle, städtische QR-Code führt, ernstgemeint ist und kein Druckfehler oder so und weil ich auf dieser fürchterlichen Seite nicht den Link gefunden habe, um weiterzuklicken, habe ich das Ziel des QR-Codes erstmal auf meinen großen Rechner geschickt, weil es mir da bereits zu doof wurde.

Schon an diesem Schritt werden sehr viele Leute scheitern. Vorher noch: Die meisten Leute, die in der Corona-Zeit mit dem Konzept QR-Code dann doch recht vertraut geworden sind, werden mit Sicherheit nicht über diese alberne und komplett überflüssige Werbeseite hinauskommen, weil sie einfach nicht verstehen, wo sie da gelandet sind. Ich habe das verstanden, weil ich mich mit solchen Sachen auskenne. Aber gerade weil ich mich mit solchen Sachen auskenne, macht mich das so wütend, denn diese lächerliche Vorschaltseite bedeutet, dass jemand ohne einen Funken Ahnung einen QR-Code bei einem kostenpflichtigen Anbieter erstellt hat, der zählt, wie viele Leute diesen Code nutzen. Bezahlt man dafür ein paar (wenige) Euro, wäre übrigens keine solche Werbeseite aufgetaucht aber man hätte auch einfach einen normalen QR-Code generieren können, der einen ohne Umweg zum Ziel bringt und dafür dann eben nicht zählt, wie viele von uns den Code scannen. Denn das ist mit Verlaub sowieso eine komplett überflüssige Statistik, da direkt neben dem QR-Code auf dem Brief mit der Wahlbenachrichtigung steht, dass

www.winsen.de

einen übrigens zum gleichen Ziel führt.

Natürlich möchte man sich die Sache aber einfach machen und denkt sich, och, wenn ich das scanne, dann sind bestimmt direkt alle meine Daten auch mit eingetragen und ich muss nur dreimal klicken und fertig ist die Laube. Das ist ja, was QR-Codes normalerweise tun, diese Erwartung haben wir also völlig zurecht.

Hier werden wir aber gnadenlos enttäuscht, denn wir landen nicht nur erstmal auf jener ärgerlichen überflüssigen Werbeseite, wo wir erstmal eine blöde Abfrage, auf der man die „QR-Inhaltskategorien“ wählen soll, zu der der Link gehört, den man eigentlich erreichen soll, dann zählt ein kurzer Countdown runter und dann endlich erscheint ein sehr unscheinbarer Button (denn eigentlich sollen wir wohl die bunten Werbebuttons anklicken und nicht unser Ziel, man kennt das ja), auf dem steht

„WERBUNG ÜBERSPRINGEN“

Während ich noch so darüber nachdenke, was die Stadtverwaltung geritten hat, es so unnötig kompliziert zu machen und mit der Erwartung, dass nach diesem Klick aber hoffentlich sofort das Formular kommt, das mir versprochen wurde, klicke ich da also drauf, weg mit der beknackten Werbung.

Im Anschluss folgt: Nicht das Formular.

Sondern der Cookie-Banner der Website der Stadt. Okay, mühsam ernährt sich das Eichhörnchen… Cookiebanner wird weggeklickt.

Im Anschluss folgt: Nicht das Formular.

Sondern ein Knopf, wo man sich anmelden soll. Überschrieben mit „Briefwahlantrag Landtagswahl“. Okay, sie haben das halt jetzt so, dass man das über seinen Account machen muss. Das verzeihe ich, diesen Account gab es so früher ja nicht und es macht schon Sinn, dass zusammenzuführen. Ich klicke auf „anmelden“.

Im Anschluss folgt: Nicht das Formular.

Stattdessen werde ich auf die Seite der Kreisverwaltung weitergeleitet. Ab diesem Punkt fühle ich mich endgültig wie in der Onlineversion der berühmten Asterix-Szene mit dem Passierschein A28 gefangen. Das Schreiben von der Stadt schickt mich über den Umweg einer reinen Werbeseite auf seine eigene Seite, die mich dann zum Kreis weiterleitet, von wo aus ich dann so lange klicken darf, bis ich wieder zurück zur Stadt gelange? Euer Ernst?

Aber wenn Ihr wollt, dass ich aufgebe, habt Ihr Euch geschnitten, denn bei soviel Irrsinn packt mich mein digitaler Forschergeist und sein Jagdfieber erst Recht: Wie irre wird es wohl noch werden?

SERVICE PORT@L!

Ich bin also auf einer Seite des Landkreises gelandet. Die ist fast so überflüssig wie die Werbeseite am Anfang. Es steht einfach nur groß und mit dieser 90er-Coolness, mit der man das damals gerne das keck das „@“ eingebaut hat „SERVICE PORT@L“ oben drüber, aber man kann nirgends was klicken.

Außer aufs Menü. Wieder so ein Punkt, an dem zum Beispiel meine Eltern komplett gescheitert wären, weil sie diese drei Balken eben nicht so selbstverständlich als Menü verstehen, wie ich – und auch ich habe erstmal auf der Seite selbst nach dem nächsten Button dieser faszinierenden Schnitzeljagd gesucht, bevor ich drauf kam, dass sie das wohl im Menü versteckt haben.

Aber bevor man irgendwas über das Menü auswählen kann, muss man sich – na? Rrrrrichtig! Anmelden!

Schon wieder!

Ist ja klar, ist ja die Seite vom Kreis, ne?

Also noch mal anmelden. Okay.

Jetzt kann ich im sehr übersichtlichen Menü zwischen „Start“, „Online-Dienstleistungen“, „Terminvereinbarung“ und „Kontakt“ wählen.

Also klicke ich auf Online-Dienstleistungen und erwarte zur Abwechslung genau das, was ich bekomme.

Nämlich nicht das Formular…

Sondern eine geradezu lächerliche Odyssee durch das gesamte Angebot an „Online-Dienstleistungen“ im Landkreis.

Die Liste ist übrigens noch viel länger, als mein Handy Scrollshots machen möchte.

Also ich meine wirklich das gesamte Angebot. Das sind derzeit über 100 Menüpunkte, die sich alle auf einer riesigen Seite befinden und durch die man sich eine halbe Ewigkeit durchscrollen muss, bis man, ungefähr in der Mitte, zum Thema Briefwahl gelangt.

Besondere Schikane: Manche Dienstleistungen sind explizit als Dienstleistungen in einer der Gemeinden gekennzeichnet. Führungszeugnisse Oder Ausweis-PIN zurücksetzen ist nämlich zum Beispiel für jede Gemeinde, die da mitmacht, einzeln eingetragen.

An dieser Stelle müssen wir, so blöde es klingt, ausnahmsweise mal loben, dass zum Glück noch nicht alle Gemeinden alle ihre Dienstleistungen digitalisiert haben, auch wenn sie es verdammt noch mal seit locker 10 Jahren hätten tun müssen, wenn es nach mir ginge. Aber hätten sie das getan, wäre dieses ganze Verfahren endgültig lächerlich geworden.

Zurück zum Thema. Also, Briefwahl beantragen ist, wie auch diverse andere Dienstleistungen, einfach NICHT nach Gemeinden sortiert hier eingetragen, sondern es gibt einen Link, der einen auf eine weitere Auswahlseite führt. Hier können wir die Gemeinde auswählen.

Mit der Erwartung, anschließend endlich das bescheuerte Formular zu finden, das früher mal einfach nach genau einem Klick da war, klicke ich und sehe…

Nicht das Formular. Dafür lande ich wieder auf der Seite der Stadt. Das ist die gute Nachricht. Die leicht verstörende: Ich soll mich zum nunmehr dritten Mal irgendwo anmelden. Okay, so schnell schafft Ihr mich nicht, natürlich melde ich mich an! Und es erscheint:

Nicht das Formular.

Sondern ich soll irgendwas „authorisieren“. Offenbar werden die Accounts von Kreis und Stadt hier verknüpft. Na gut. Warum das nötig ist, erschließt sich mir selbstredend nicht. Beide schicken mich ja nun seit vielen Klicks lustig hin und her, wozu noch irgendwas verknüpfen, zumal ich ja sowieso an sich noch eingeloggt bin, und die Stadt weiß, wer ich bin.

Aber ich bleibe Hartnäckig, klicke also auf authorisieren.

Im Anschluss folgt: Nicht das Formular.

Sondern ein weiterer Button. Der heißt vielversprechenderweise „Briefwahlantrag Landtag Neu“. Mich verwirrt zwar das „Neu“ am Ende. Einmal, weil es großgeschrieben ist und dann, weil ich es schlicht nicht verstehe. Jaja, ich stelle diesen Antrag „neu“ aber wie denn auch sonst? Egal.

Im Anschluss folgt: Nicht das Formular?!

Nee, natürlich nicht. Denn was hat bei diesem ganzen Irrsinn die ganze Zeit gefehlt? Richtig! Datenschutzerklärung!

Einmal wie immer supersorgfältig durchlesen, natürlich vergesse ich beim ersten Versuch das Kreuz zu setzen aber dann gehe ich auf weiter.

Finally: Das Formular. Etwas kaputt aber das ist nun wirklich das kleinste Problem.

Und im Anschluss folgt endlich: DAS FORMULAR!

Es sieht auf dem Handy zwar kaputt aus, das liegt sicher daran, dass ich dieses winzige 6,7-Zoll-Display habe… aberman kann alles ausfüllen, immerhin.

Mach ich auch. Am Schluss gehe ich ein allerletztes Mal auf „weiter“.

Also, dachte ich. Aber warum sollte das ganze Procedere an dieser Stelle plötzlich unkompliziert werden wollen?

Es folgt eine Seite, die mit „Ausfüllvorgang abschließen“ steht. Ich schockverliebe mich in das Wort Ausfüllvorgang, auch wenn es, wenn wir ehrlich sind, nach etwas klingt, dass höchstens halb so lang und kompliziert ist wie mein Erlebnis. Ausfüllexperience wäre vielleicht treffender?

Ich habe stolze vier Möglichkeiten, wie ich jetzt weitermachen kann. Eine ist interessanter als die andere. Ich kann eine „Vorschau“ anfordern und würde dann eine „Vorschau des Ergebnis-PDFs“ erhalten. Ich verstehe schon nicht, was ich mit einem PDF dieses Antrags soll aber eine Vorschau davon ist natürlich erst recht merkwürdig.

Ich kann das PDF aber auch direkt speichern, also einfach so, ganz ohne Vorschau. Eiderdaus!

Und schließlich, lustigster Menüpunkt, ich kann „Drucken“, also sowohl die Vorschau, als auch das PDF einfach links liegen lassen und dann habe ich ein Stück Papier, auf dem mein Antrag gedruckt ist. Mein Online-Antrag, wohlgemerkt.

Die Schöpfer dieses als bürokratisches Text-Adventure getarnten „Ausfüllvorgangs“ beweisen hier im Finale noch einmal Humor, indem sie den einzigen sinnvollen Menüpunkt ganz nach unten packen, so dass man auf jeden Fall noch mal scrollen muss. Denn meinen Online-Antrag möchte ich weder vorschauen, noch speichern oder drucken, sondern tatsächlich einreichen.

Und das mach ich nun auch. Was dann folgt, ist fast schon enttäuschend. Denn statt mich zum Beispiel wieder zurück zu irgendeiner Werbeseite zu geleiten oder irgendwelche anderen Sperenzchen zu machen oder statt auch nur irgendeinen weiteren sinnlosen Text zu droppen, steht da einfach nur in geradezu beklemmender Einfachheit:

Antrag eingegangen.

Nun gut, das Ende enttäuscht etwas aber insgesamt ist es hier gelungen, eine an sich sehr einfache Sache total kompliziert umzusetzen – und damit dann noch die frühere, bestens funktionierende und überaus einfache Umsetzung zu ersetzen.

Als kleines Bonbon bekommt man anschließend noch ne E-Mail, die einem mitteilt:

„es liegt eine neue Mitteilung zu Ihrem Auftrag „A[sechsstellige Nummer], Briefwahlantrag Landratswahl“ im Portal vor.“

Als bürokratieerprobter Bürger gehen da alle Alarmlampen an: Hat da doch was nicht geklappt? Klickt man auf die Nachricht (dazu ist wieder ein Login erforderlich) stellt man fest, dass die Mitteilung einfach nur ist, dass der Antrag eingegangen ist und man hat hier auch noch mal die Möglichkeit, sich den als PDF runterzuladen. Wozu auch immer und als hätten die Möglichkeiten, die man davor dazu hatte und die man erfolgreich ignoriert hat, nicht ausgereicht.

Wie heißt es so schön? Wenn man einen Scheißprozess digitalisiert, hat man einen digitalen Scheißprozess. Aber hier ist das Kunststück gelungen, einen offline total einfachen Prozess per Digitalisierung zu einem Stück aus dem Tollhaus zu machen.

Leute, das ist nicht Digitalisierung, das ist KUNST!

Chapeau. Hätte mir jemand gestern davon erzählt, wie das jetzt läuft, ich hätte es vermutlich nicht geglaubt.

Damit jeder das glaubt, habe ich fleißig Screenshots gemacht. In diesem Video kann man meine Odyssee noch einmal nachverfolgen.