Corona-Tagebuch: Xaviers Wahntag

Gestern hatte ich, glaube ich, das erste mal wirklich bewusst eine Erfahrung, die etwas Bleibendes von dieser Pandemie repräsentieren könnte.

Wie die letzten beiden Jahre auch, bin ich auch in diesem Jahr erneut als Leiter des „Arbeitskreises Digitales“ der FDP in meinem Landkreis eingesetzt worden (der trägt in Wahrheit einen viel längeren Namen, den ich mir damals sogar selbst ausgedacht habe aber ich nenne ihn jetzt in der Regel sogar und trotz meines Hasses auf Abkürzungen jeglicher Art gerne „AK DIG“, das nur am Rande) und in dieser Eigenschaft habe ich für gestern eine erste Veranstaltung gemacht.

Vor zwei Jahren hatte ich mit Sicherheit auch den Wunsch, sowas von zuhause aus per Videokonferenz zu machen. Es kann sogar sein, dass wir das teilweise telefonisch gemacht haben aber da waren wir halt auch nur zu zweit. Getroffen haben wir uns allerdings trotzdem einige Male.

Im Coronajahr hingegen war es fast selbstverständlich, dass man sich für sowas nicht physisch trifft. Nicht aus Angst vor Ansteckung oder so, wir alle haben uns in den letzten drei Wochen durchaus und teilweise mehrfach mal aus anderen Anlässen getroffen. Sondern der Grund ist einfach: Weil es geht, weil es zweckmäßig ist, weil wir alle wissen, wie.

Und das ist neu, diese Selbstverständlichkeit, mit der man mal eben eine Videokonferenz veranstaltet. Das ist fast schon Routine und die größte „Hürde“ ist nur noch, dass man sich überlegen muss, welches Tool für welchen Kreis denn das Zweckmäßigste ist.

Für diesen meinen Arbeitskreis musste wieder mal das gute alte Telebier.eu herhalten und die Hälfte der Anwesenden trank ja auch ein Bier dazu. Auch das ein Vorteil der Videokonferenz: Einfach mal ein bis drei Bierchen nebenbei trinken können, muss ja keiner mehr fahren. Das darf gern bleiben.

Außerdem war gestern der große Warntag. Erstmals seit dem Kalten Krieg sollte einfach mal alles ausgelöst werden, was vor Katastrophen und Gefahrenlagen warnt. Allen voran sämtliche Sirenen, aber auch all diese ulkigen Warn-Apps, von denen irgendwie jeder Landkreis ne andere benutzt, weswegen es vielleicht auch gar nicht so blöde ist, mal zu gucken, ob das überhaupt alles funktioniert, wenn es wirklich mal groß wird.

Mir fehlt zwar nach wie vor die Phantasie für eine wirklich bundesweite Gefahrenlage. In Sachen Corona haben nie Sirenen geheult und wozu auch? Selbst im Krieg gab es Luftangriffe in der Regel nur auf bestimmte Städte und ob im Fall eines Atomkriegs solche Warnungen noch irgendwie weiterhelfen, darf man sicherlich bezweifeln.

Aber das Ergebnis dieses bundesweiten Tests ist sowieso viel lustiger, denn zum Einen waren viele, sehr viele Menschen regelrecht geschockt davon, dass sie gar keine Sirenen gehört haben (wo ich mich dann frage, wieso denen nicht schon vorher aufgefallen ist, dass bei ihnen einfach nie eine Sirene geht). Zum Anderen haben sich die Apps jedenfalls in der Größenordnung eines solchen umfassenden Tests einmal mehr als komplett nutzlos erwiesen, denn sie lösten entweder gar nicht oder zwischen 20 und 30 Minuten später erst aus.

An Gags aller Art über das offensichtlich kaputte gesamtdeutsche Katastrophenwarnsystem herrschte gestern kein Mangel.

Worüber viel gewitzelt wurde aber ehrlich gesagt wird es bei einem echten Ernstfall vielleicht auch egal sein, ob man jetzt ne halbe Stunde später erst oder gar nicht vor irgendwas dermaßen großen gewarnt wird, zumal mans ja vielleicht auch über die üblichen Wege längst mitbekommen hat. Es verbreiten sich so viele seltsame und irrelevante Meldungen aus wie Lauffeuer, dass man sich eigentlich fragen kann, wie zeitgemäß diese massive Aufmerksamkeit auf klassische Alarmierung eigentlich noch ist.

Auch die Wahnwichtel wussten den Warntag natürlich zu interpretieren. Was absehbar war und für mich ehrlich gesagt Grund genug gewesen wäre, diesen Quatsch einfach ein Jahr zu verschieben. Der große Prophet Xavier Naidoo ging jedenfalls fest davon aus, dass die Sirenen die Gehirne aller Bürger umprogrammieren würden.

Als das regierungstreue Schlafschaf, dass ich nunmal bin, habe ich nicht meditiert, sondern stand um 11 auf dem Balkon und habe mir das Spektakel einfach angehört. Selbstverständlich heulten hier überall Sirenen, tun sie ja ansonsten auch dauernd, wenn mal was ist.

Und so eben auch gestern. Für mich war es ein bisschen ein Kindheits-Revival, denn diesen Fliegeralarm erlebte ich als kleiner Dreibierkistenhoch in den 1980ern natürlich auch einige Male mit und das ist mir durchaus in Erinnerung geblieben. Nur, dass damals keiner komische Verschwörungstheorien verbreitet hat, was den Sinn dieser Übungen betrifft. Irgendwie war der sehr reale Kalte Krieg echt besser, als dieser Wahnsinn wegen jeder noch so dämlichen Nichtigkeit heute…

…aber natürlich auch noch viel gefährlicher, von daher würde ich unsere paar Bekloppten wirklich ungern gegen die permantente Bedrohung durch einen Atomkrieg zurücktauschen wollen.

Ansonsten habe ich noch einen Bezirksparteitag erlebt. Für den musste ich ins ferne Uelzen reisen, weil so ein Bezirk leider scheiße groß ist und in unserem Fall hier von den Stadtgrenzen Hamburgs bis zu denen Hannovers reicht.

Vorbereitet war ich auf ähnlich alberne Gepflogenheiten wie schon beim Kreisparteitag vor kurzem, dass man also beim Eintritt in das Gasthaus (in diesem Fall ein Hotel) maskiert ist, am Platz dann nicht mehr aber beim Rausgehen bitte wieder oder beim Gang zur Toilette.

Und so war es natürlich auch. Aber zusätzlich dazu war die Sitzordnung so, dass nicht mal mehr Zweiergruppen da waren, sondern die Stühle alle einzeln standen und es auch keine Tische gab.

Nun war es ein Bezirksparteitag, der auch nur deswegen stattfinden durfte, weil wir wählen mussten. Dafür gibt es dann wohl Ausnahmegenehmigungen. Eine Hochzeit dieser Größe hätte zum Beispiel nicht stattfinden können. Die relativ unbedeutenden Wahlen eines Bezirksvorstandes sind der Regierung offenbar wichtiger, als der wichtigste Tag im Leben eines Ehepaars, auch irgendwie aufschlussreich und sehr deutsch aber das sei nur mal als randständiger Gedanke eingestreut.

Bescheuert war das natürlich trotzdem. Bei so einem Bezirksparteitag, insbesondere in Coronazeiten, fahren natürlich nicht alle Delegierten hin, sondern sie lassen sich vertreten. Dementsprechend hatte ich und hatten viele andere auch, jeweils zwei Stimmrechte und mussten also jeweils zwei Stimmzettel ausfüllen und abgeben. Dazu hat man noch die Tagesordnung zur Hand und den Antrag, der beraten werden sollte. Und ein Getränk. Und natürlich den Stift zum Ausfüllen der Stimmzettel. Und logischerweise ging auch noch die obligatorische Anwesenheitsliste fürs Protokoll rum.

Und das alles ohne Tisch, wie gesagt. Um den Treppenwitz rund zu machen, sei noch erwähnt, dass die Versammlung extra bereits um 19 Uhr angesetzt war – mit der Begründung, dass da die Küche noch geöffnet sei und man dann nebenbei etwas hätte essen können.

Etwas essen, zwei Stimmrechte, Getränk, Tagesordnung, Antrag, Anwesenheitsliste, alles ohne Tisch. Natürlich hat keiner was gegessen und natürlich wurden dauernd irgendwelche Gläser umgeworfen, weil die halt auf dem Boden zwischen den Stühlen standen. Einmal gabs auch Scherben.

So in Summe fand ich diesen Bezirksparteitag bisher so ziemlich das Schlimmste, was Corona an unsinnigen, unverständlichen und aberwitzigen Begleiterscheinungen ins tägliche Leben gebracht hat. Aber im Oktober folgt ja noch der Landesparteitag. Der wurde schonmal auf einen Tag eingedampft und ich bin gespannt, was da noch so an Corona-Specials ausgepackt werden wird.

Mein Bezirksvorsitzender heißt Jörg Bode und sitzt im Landtag. In seinem Bericht spielte Corona logischerweise auch die Hauptrolle und er nannte etliche Dinge, die einfach nicht schlüssig geregelt sind. Und die deswegen eigentlich nur dafür sorgen, Leute unnötig zu frustrieren. Ein Punkt war die Schülerbeförderung: In den Schulen dürfen teilweise nicht mal Stifte getauscht werden, die Kinder dürfen in den Pausen keine Zeit zusammen verbringen und so weiter. Und in den Bussen stehen sie dann dicht gedrängt für ne halbe Stunde zusammen. Das passt einfach alles nicht so wirklich zusammen.

Aber wer weiß, vielleicht endet ja auch dieses Schuljahr wieder vorzeitig und wird durch schlecht organisierten Heimunterricht ersetzt und dann muss man sich über sowas auch nicht weiter den Kopf zerbrechen.

Denn die aktuelle Entwicklung der Infiziertenzahlen kennt mal wieder nur eine Richtung – und verfolgt diese in letzter Zeit auch mal wieder beunruhigend rasant.

Und so überschritten wir gestern wieder einmal die Marke von 50 Infizierten. Was natürlich immer noch wenig ist – aber eben doch auch schon wieder ein Viertel des Höchstwertes im April.

Insgesamt hatten über 700 Menschen im Landkreis Harburg mal eine Corona-Infektion. 13 von ihnen haben das nicht überlebt.

Das 13. Opfer starb allerdings vor gut vier Monaten und das es seither niemanden mehr erwischt hat, ist vielleicht nach wie vor die einzige halbwegs beruhigende Nachricht an der ansonsten nicht ganz so guten Entwicklung.

Weltweit gab es mittlerweile über 900.000 Tote, bei 28 Millionen Infizierten. In Deutschland kratzen wir grade wieder mal an der Schwelle zu 2000 Neuinfizierten an einem Tag und der in meinem Landkreis erkennbare Trend scheint in der Tat ein bundesweiter zu sein.

Natürlich ist das Wachstum nicht so bedrohlich und schnell, wie zu Beginn. Natürlich wird getestet wie bekloppt. Man muss das alles also nach wie vor nicht allzu schwarz sehen.

Aber die Pandemie ist eben auch immer noch nicht vorbei.

Und während die eine Pandemie noch nicht vorbei ist, kommt irgendwie schon die nächste um die Ecke. Denn kurz bevor gestern die Sirenen losheulten, heulte Landwirtschaftsministerin Klöckner uns was von der afrikanischen Schweinepest vor, deren ersten Fall in Deutschland man nun nachgewiesen habe.

2020 lässt wirklich nichts aus.