Corona-Tagebuch: Sehnsucht nach der Hosenzeit

Im letzten Jahr um diese Zeit war Weihnachten grade vorbei und wir stellten uns maximal so bedeutende Fragen wie, mit welchem Whisky wir auf das neue, spannende Jahr 2020 anstoßen wollen würden. Und dann wurde das Jahr 2020 auf eine so spezielle Art spannend, dass wir teilweise vor Langeweile fast gestorben wären, während andere vor viral induzierter Atemnot tatsächlich starben.

Im letzten Jahr um diese Zeit brachen die letzten Wochen der Hosenzeit an. Der Zeit also, als alle bei der Arbeit noch eine Hose trugen, statt irgendeinen Schlabberkram, von dem man ja bei einer Videokonferenz nichts sieht.

Im letzten Jahr um diese Zeit war generell Home Office eher eine Ausnahmeerscheinung. Dafür galt verreisen mit Bus, Bahn oder Flugzeug als normal.

So langweilig sich 2020 über lange Strecken auch anfühlte: Es war nicht ereignislos. Zum Beispiel wurde in Rekordzeit ein Impfstoff zur Marktreife gebracht, auf dem aktuell gigantische Hoffnungen ruhen.

Wobei ich zugegebermaßen eher hoffe, dass sich da zügig noch ein paar weitere dazu gesellen, weil die Rückkehr zur Hosenzeit beim aktuellen Impftempo noch Jahre dauern würde.

In Niedersachsen, wo damit gestern begonnen wurde, plant man bis März zum Beispiel mit irrwitzig unambitionierten 63.000 Impfdosen pro Woche, die verabreicht werden können. Bei zwei Impfungen pro Kandidat sind also rechnerisch pro Woche 31.500 Niedersachsen geimpft. Bei 8 Millionen Niedersachsen sind wir dann nach 254 Wochen fertig. Knapp fünf Jahre. Vielleicht vier, weil die Impfgegner und die, die aus guten Gründen vielleicht nicht geimpft werden können, rausfallen aber jedenfalls: Jahre.

Bei dem aktuellen Tempo ist die Hosenzeit noch sehr, sehr weit entfernt. Aber das ist zugegebenermaßen auch eine eher theoretische Betrachtung.

Praktisch ist es so, dass die Bundesrepublik mit 10 Millionen Impfdosen bis März rechnen kann. Ich wünsche denen, die das verhandelt haben, von Herzen die baldige Abwahl, weil es lächerlich ist in der Zahl über so einen Zeitraum und ehrlich gesagt kaum den gigantischen Aufwand mit den bundesweit eingerichteten Impfzentren (allein in Niedersachsen sind es 60) rechtfertigt.

Aber 10 Millionen Dosen sind 5 Millionen Geimpfte – und vorneweg genau die, die sonst die Intensivbetten mit höchster Wahrscheinlichkeit belegen könnten. Das bedeutet, dass trotz dieser albern niedrigen Zahl von Impfungen die zentrale Gefahr, wegen der wir den ganzen Zinnober so ernst nehmen, zu einem guten Teil gebannt sein könnte.

Und das bedeutet, dass eben ab März oder April (vorher wird das ja doch nichts, weil bis dahin Erkältungszeit ist man schon deswegen wenig bis gar nichts wird lockern wollen) die Situation noch einmal deutlich entspannter sein könnte, als in diesem Jahr im Mai.

Und da war dann auf einmal eben doch schon Einiges möglich, vornweg zum Beispiel, dass man problemlos mit ein paar Freunden im Freien sitzen durfte, ohne Angst vor der nächsten Polizeirazzia zu haben.

Angenommen, solche Treffen im kleinen Kreis, und seien es auch nur 10 Personen, blieben bis Ende der Pandemie dann durchgängig möglich und vielleicht sogar von Monat zu Monat ein bisschen mehr, ich denke, dann ließen sich notfalls auch diese fünf Jahre Impfphase überleben, ohne bekloppt zu werden.

Bin ich zu optimistisch, wenn ich dieses trotzdem wenig erstrebenswerte Szenario als den Worst Case betrachte? Ja, vielleicht.

Aber es besteht ja zumindest trotzdem die Chance, dass es am Ende deutlich schneller geht. Und dann haben wir eben vielleicht doch „nur“ zwei Pandemiejahre. Darunter wird es wohl kaum gehen, so realistisch sollte man bleiben.

Wenn wir 2022 wieder einen Faslam feiern können, ohne zu befürchten, ein Superspreaderevent zu werden, soll mir das fürs erste genügen. Dann wäre es im historischen Vergleich immer noch eine relativ schnell besiegte Pandemie.

Was übrigens die Zahlen in meinem Landkreis betrifft, kann man sich auch hier erlauben, leise optimistisch zu sein. Die Inzidenz stieg gestern zwar wieder ein kleines Bisschen an. Aber vor einer Woche hatte sie mit 101 ihren bisherigen Höchststand und lag vorgestern trotzdem erstmals bei unter 70, gestern dann wieder leicht darüber.

Sieht man sich die Fallzahlen seit 1. November an, denkt man zwar vielleicht, dass sich das Ganze doch immer noch in der Tendenz in die falsche Richtung entwickelt, auch wenn es zuletzt leicht sank.

Aber was mich optimistisch stimmt ist, dass die Differenzkurve zur Vorwoche seit Weihnachten wieder negativ ist. Eher zaghaft zwar und das Gleiche hatten wir Anfang Dezember schon mal, bevor es schlimmer wurde.

Aber es ist ein Anfang. Auch wenn ich nicht glaube, dass das nachhaltig so bleiben wird, da müssen wir wohl mal die nächsten zwei Wochen abwarten, um den „Weihnachtseffekt“ sehen zu können.

Derweil können wir uns die Zeit mit seltsamen Diskussionen vertreiben. Angestoßen vom Großmeister der seltsamen Diskussionen: Seehofers Horst.

Bild könnte enthalten: 1 Person, Text „Seehofer spricht sich gegen Sonderrechte für Geimpfte aus Süddeutsche Zeitung“

„Keine Sonderrechte für Geimpfte“

findet er. Und Bundesspahn findet das auch.

Auch hier empfehle ich dringende Abwahl, denn eine Regierung, die das Grundgesetz zum Sonderrecht erklärt, qualifiziert sich streng genommen damit schon fast dafür, mit Fackeln und Mistgabeln verjagt zu werden, statt durch eine Wahl. Zum Glück bin ich Demokrat genug, das als dummen Spruch zu verbuchen denn als ernstzunehmende Aussage.

Angenommen, eine Impfung verhindert, dass Geimpfte niemanden anstecken können, mit welcher Begründung bitte sollte Deutschlands oberster Horst bitte diesen Menschen ihre Grundrechte aberkennen?

Wird ihm nicht gelingen – jedenfalls nicht verfassungskonform.

Und deswegen ist diese Diskussion so seltsam, die grade durchs Land schwappt. Sie entbehrt jeder sinnvollen Grundlage, rechtlich gesehen. Sie übersteigt zum Einen die Kompetenzen der Bundesregierung bei weitem.

Zum Anderen aber ist gar nicht klar, ob Geimpfte wirklich nicht mehr ansteckend sind. Natürlich wünschen wir uns das alle aber das ist eine offene Frage.

Ob es dem Horst sein fucking Ernst ist, die Rücknahme einer weitgehenden Entrechtung von Bürgern bei Erlöschen sämtlicher Gründe für diese Entrechtung ein „Sonderrecht“ zu nennen, sollte man ihn bitte trotzdem jeden Tag bis zum hoffentlich nahenden Ende seiner Karriere fragen.

Aber jedenfalls könnte man mal überlegen, ob so jemand als Innenminister eigentlich noch tragbar ist.