Vor ungefähr einem Jahr passierte ganz viel Neuland. Alle machten auf einmal Home Office, das über Jahrzehnte verteufelte Home Schooling war auf einmal doch nicht mehr ganz so böse, selbst das Sozialleben verlagerte sich vollständig ins Internet.
Weite Teile des demokratischen Engagements ebenfalls. Ich selbst hatte im letzten und in diesem Jahr seit Beginn der Pandemie vielleicht eine Handvoll Präsenzveranstaltungen, die in der Regel auch nur deswegen in Präsenz stattfanden, weil es rechtlich nicht anders ging (und damit auch erlaubt war). Aber nach Möglichkeit klemmt man sich das natürlich alles und veranstaltet es online.
Wo demokratische Teilhabe aber immer noch eine sehr offene Flanke hatte, war die Teilnahme an öffentlichen Sitzungen durch ganz normale Bürger. Das ist nun so eine Sache, die ich seit jeher für sehr wichtig halte, auch wenn die Zahl der Leute, die an sowas überhaupt interessiert ist, sehr begrenzt ist. Darum geht es aber nicht, sondern öffentliche Sitzungen müssen meiner Meinung nach einfach zugänglich sein, sonst sind sie faktisch unter Ausschluss der Öffentlichkeit.
Aus diesem Grund setze ich mich seit vielen Jahren dafür ein, dass sowohl Stadtrat als auch Kreistag die Sitzungen ihrer Ausschüsse und Vollversammlungen live streamen und auch zeitversetzt über Mediatheken verfolgbar machen. Ich finde es falsch und kontraproduktiv, gerade Kommunalpolitik so zu verstecken.
Natürlich bohre ich da ein ziemlich dickes Brett. Aber es gibt Fortschritte, der Stadtrat zum Beispiel hat irgendwann mal beschlossen, dass das eigentlich ganz toll wäre (mehr ist nicht passiert, nun gut…) – und jetzt überrascht der Landkreis damit, dass Sitzungen des Kreistages und der Ausschüsse übertragen werden.
Hell freezes over!
Warum es ein Jahr gedauert hat, das anzubieten, weiß ich nicht. Da ich aber gerade beim Kreistag nie damit gerechnet hätte, ist mir das auch egal, es ist erstmal eine freudige Überraschung.
Die Umsetzung ist leider, drücken wir es mal freundlich aus, gewöhnungsbedürftig.
Man muss sich anmelden. Das ist seltsam genug. Man muss sich mit seinem Namen und seiner Postadresse anmelden. Das ist nicht nur seltsam, sondern wahrscheinlich ein grober Verstoß gegen den Datenschutz, da definitiv unnötig (bei einer Präsenzveranstaltung muss man als Zuschauer weder seinen Namen, noch seine Adresse irgendwohin schreiben, außer vielleicht jetzt in Corona-Zeiten).
Auf der Seite, auf der das angekündigt wird, steht eine E-Mail-Adresse, an die man sich dazu richten soll, die aber fehlerhaft ist, denn ihr fehlt die Domainendung, man kann da so nichts hinschicken und muss das erstmal begreifen und dann auf Verdacht selber ein „.de“ dahintersetzen. Das ist ein Missgeschick, das kann jedem mal passieren und ist auch nicht so schlimm. Aber würde man sich nicht so einen komplizierten Anmeldeprozess ausgesucht haben, wäre sowas einfach schon egal gewesen. So ist es echt nicht gut.
Auch nicht so richtig erklärt wird einem, dass die E-Mail-Adresse, von der aus man dem Herrn vom Landkreis anschreibt, explizit die eines Google-Accounts sein muss. Der Text weist einen darauf hin, dass man über einen solchen Account verfügen muss aber nicht, dass man diesen mitteilen muss. Sind ja doch zwei paar Schuhe und garantiert auch nicht jedem klar. Ich bin da gar nicht drüber gestolpert, allerdings nutze ich meine Gmail-Adresse sowieso für so ziemlich alles, was nicht Privatkram ist, weswegen es hier dann auch keine Rolle spielte. Kann bei anderen aber anders aussehen.
Die Einladung zu den jeweiligen Streams kommt dann direkt via YouTube, was für mich als jemand, der Youtube nach wie vor nicht wirklich als Plattform nutzt, sondern als das Ding, wo halt die Videos sind, dann selber Neuland war. Diese Einladungen kommen mit Link per E-Mail. Zwischen dem ganzen Youtube-Werbemüll, den man normalerweise nicht mal richtig wahrnimmt. Gut, ich habe mir dafür jetzt einen Filter eingerichtet und hoffe, dass mir solche Einladungen dann nicht entgehen. Aber auch das ist etwas, was garantiert nicht jeder kann, weiß oder auch nur für einen gerechtfertigten Aufwand hält.
Insgesamt ist das keine besonders bürgernahe, geschweige denn benutzerfreundliche Handhabung. Wäre man böse, müsste man unterstellen, dass hier versucht wird, die Leute lieber draußen zu halten. Ich bin nicht böse und gehe eher davon aus, dass hier ein paar Reichsbedenkenträger aus den Reihen der Kreistagsmitglieder alle möglichen lustigen Vorstellungen dazu geäußert haben dürften, zu welchen Bedingungen sie sich dazu herablassen würden, der Öffentlichkeit Einblicke in ihre Arbeit zuzugestehen.
Die Kreistagssitzung am Montag hatte ich noch verpasst, weil ich ein paar Stunden zu spät gemerkt hatte, dass man Streamen kann. In einen normalen Stream hätte ich jetzt einfach reingucken können aber ohne Anmeldung geht hier halt gar nichts. Was wohl der Datenschutz dazu sagt, dass der Landkreis – eine staatliche Behörde – Google – einem amerikanischen Datenkraken – explizit mitteilt, wer so alles an diesem bestimmten Video interessiert ist? Ich würde so eine Vorgehensweise nicht mal privat in Erwägung ziehen. Aber als Behörde? Mutig.
Ich habe zwei Ausschüsse in dieser Woche verfolgt. Nicht komplett, eher so sporadisch. Und ich fand es gut, dass das geht. Die technische Umsetzung ist dann auch wieder okay, YouTube ist da natürlich ne sichere Bank.
Nicht so witzig fand ich, dass am Anfang der einen Sitzung sich so halb lustig darüber gemacht wurde, dass es nur einen Zuschauer gibt. Was 1. nicht stimmte (Youtube zeigte mir immerhin 3 an), 2. ziemlich arrogant ist, wenn man den Anmeldeprozess dermaßen kompliziert macht, dass 99% der Zielgruppe ihn entweder nicht verstehen oder hier schon keine Lust mehr haben, sich das zu geben und 3. echt auch grundsätzlich ein merkwürdiges Mindset offenbart, weil Öffentlichkeit selbst dann eine gute Sache ist, wenn gar keine zuguckt.
In der einen Sitzung ging es um den „Kreiskalender“, was so eine regelmäßige Publikation ist. Der Landrat höchstpersönlich erklärte, dass man grade am überlegen sei, ob der vielleicht auch irgendwie eine digitale Form bekommen solle. Soso, dachte ich mir, da ist man grade am überlegen. Im Jahr 2021. Das passte irgendwie ganz wunderbar zum Gesamteindruck der Art und Weise, wie ich dieser Veranstaltung folgen konnte.
Es vergaßen auch ungefähr alle 10 Minuten Leute, ihr Mikrofon einzuschalten, wenn sie was erzählen wollten. Ich will mich darüber gar nicht lustig machen aber es zeigt, dass hier offensichtlich Leute nicht sonderlich geübt sind mit solcher Technik. Was ich bemerkenswert finde, nach über einem Jahr Pandemie. Wie veranstalten die denn aktuell Fraktionssitzungen? Parteivorstandssitzungen? Treffen im Freundeskreis?
Dass dann der Mann vom „LKR“ (nicht vom Landkreis, sondern das ist diese Lucke-Partei für AFD-Aussteiger, von denen es immer noch Restbestände in den kommnualen Parlamenten gibt) an der Förderung eines Digitalisierungskonzeptes für Museen, das für mich voll geil klang, ausgerechnet kritisierte, dass das ja dann digital sei und die jungen Leute doch mehr Bewegung bräuchten und wie das da gewährleistet sei, passte schmerzhaft gut ins Gesamtbild…
Ich lache niemanden aus, der mit aktueller Technik nicht gleich klarkommt. Und wenn es Technik von vor 10 Jahren ist, mit der er nicht klarkommt, lache ich ihn auch nicht aus. Was ich erwarte ist eine gewisse Offenheit. Nicht mehr – aber eben auch nicht weniger. Und die vermisse ich derzeit bei der Arbeit des Kreistages und seiner Ausschüsse ehrlich gesagt ein wenig.
Aber wie schon erwähnt: Ich hätte ja nicht mal damit gerechnet, dass es da überhaupt jemals einen Stream geben würde. Definitiv nicht in dieser Wahlperiode. Die Endet ja auch im September schon. Da haben die mich positiv überrascht – und bei der Umsetzung direkt noch mal negativ, denn das ist so in Summe wirklich die am wenigsten sinnvolle Umsetzung, die man sich vorstellen kann. Wäre nur noch zu toppen, wenn man den Stream selber klöppeln würde, statt wenigestens hier Youtube zu nutzen.
Neuland halt. Aber: Kann ja alles nur besser werden. Bei dem Durchschnittsalter der Volksvertreter dort allerdings nicht so bald, fürchte ich. Vielleicht fehlt es dort wirklich am Verständnis dafür, warum diese Form der Öffentlichkeit etwas Gutes ist.
Heute ist der 29. April, der Monat ist also fast vorbei. Und mein Landkreis war keinen einzigen Tag bei einer Inzidenz über 100.
Unter 50 ist sie allerdings auch nie geraten und die absolute Zahl der Infektionsfälle umkreist seit Wochen die 300er-Marke.
Fast könnte man meinen, dass das halt jetzt so der Wert ist, der einfach gehalten wird und an dem sich bei der aktuellen Gemengelage und den derzeitigen Regeln auch nichts ändern kann. Aber ist das gut? Ist das schlecht?
Das Merkel-Ziel wurde ja mal, kurz bevor zu viele Landkreise die 50 zu erreichen drohten, auf eine 35er-Inzidenz gesetzt. Das Ergebnis von sechs langen Monaten Dauerlockdown, der als 4-6 wöchige Kraftanstrengung versprochen worden war, ist eine Inzidenz von unter 80 bei uns im Kreis – in anderen Landkreisen ist man teilweise sehr weit darüber.
Aber die Intensivbetten! Ja, um die nicht zu überbelasten machen wir den ganzen Zirkus ja letztlich. Ein Blick bei DIVI offenbart, dass wir aktuell noch ein einziges Intensivbett verfügbar haben. Ein einziges!
Von 34. Allerdings sind davon nur 6 von Covid-Patienten belegt. Huch?
Also ja, sechs belegte Betten sind sechs belegte Betten und sicherlich irgendwo ein Problem, weil es natürlich sechs mehr sind, als ohne Covid belegt wären.
Und diese sechs Betten bringen uns auch näher an die Vollbelegung. Ich will da nichts verharmlosen.
Aber! Wenn eine Inzidenz von 77 praktisch bedeutet, dass sechs Intensivplätze durch Covid-Patienten belegt werden, fällt es mir doch schwer, diese Inzidenz von 77 als das Riesenproblem zu begreifen, dass es angeblich sein soll.
Und ehrlich gesagt fände ich als Laie es ähnlich bedrohlich, wenn ich hören würde, dass wir nur sieben freie Intensivbetten Kreisweit hätten. Die würden sich auf die beiden Krankenhäuser verteilen und dann wäre eins davon nach dem nächsten schweren Autounfall einfach mal voll.
Jeden Tag gibt es hunderte Schlagzeilen über ein Gesundheitssystem am Anschlag, über fast volle Intensivstationen. Immer, wirklich immer ist dafür Corona verantwortlich. In der Praxis bedeutet das, das 6 schwere Coronafälle das Gesundheitssystem vor Ort ans Limit bringen.
Zum Vergleich: Der Landkreis Vechta hat eine Inzidenz über 300 und hatte in letzter Zeit auch selten irgendwas darunter. Dort sind 2 Corona-Patienten auf der Intensivstation. Salzgitter liegt bei 245 und hat 4 Corona-Patienten.
Ich finde das eine auf verschiedenen Ebenen besorgniserregende Erkenntnis. Es ist jedenfalls nicht ganz leicht, nachzuvollziehen, wie ernst die Situation eigentlich ist und wieso. Es hält auch niemand für nötig, das einfach mal zu erklären.