Corona-Tagebuch: 80 Millionen Virologen

Die Anmaßung von Wissen nervt immer. Egal, ob es der Staat ist, der das weiß Gott permanent tut – wofür ihn Liberale zurecht regelmäßig kritisieren – oder irgendein dahergelaufener Facebook-Aluhut.

In Bezug auf Corona erleben wir, dass in Deutschland, wo es in diesem Sommer im Zuge der Fußball-Europameisterschaft 80 Millionen Bundestrainer gegeben hätte, diese Multiexperten offenbar alle zu Virologen mutiert sind. Jeder weiß ganz genau, was richtig und was falsch ist, welche Maßnahmen sinnvoll sind und welche nicht, wo Fehler gemacht werden und wer dafür zur Verantwortung zu ziehen ist. Das kann man ja schließlich alles im Internet nachlesen!

Ich gehe fest davon aus, dass nicht alle Maßnahmen sinnvoll sind. Aber ich weiß es nicht und kann es auch nicht wissen. Niemand weiß es, weil es viel zu wenig Forschung zu diesem Virus gibt. Deswegen schießt man logischerweise hier und da vermutlich übers Ziel hinaus. Zumindest jetzt grade. Das ist im Einzelfall sicher ärgerlich aber unter dem Strich wäre das auch genau meine Strategie. Denn das Austesten, welche Maßnahmen vielleicht doch überflüssig sind, war in der anfänglichen Situation, wo man alles tun wollte, um die Verbreitung unter Kontrolle zu kriegen, einfach keine Option.

Jetzt langsam wird es zu einer. Und siehe da: Baumärkte dürfen wieder öffnen, andere Läden teilweise auch. Und in diesem Modus wird es wohl erstmal weitergehen, dass man guckt, was geht, misst, hier und da weiter lockert. Möglicherweise mit einem größeren Schritt dieser Art nach dieser Woche, so wie es ja ursprünglich mal angedeutet, wenn auch nie offen gesagt (und von mir persönlich zumindest im Augenblick nicht geglaubt) worden war, denn die anfänglichen harten Beschränkungen sollten ja mit dem Ende der Osterferien, also mit dem Ende der kommenden Woche, enden. Es pfiffen eigentlich schon wenige Tage nach Beginn der Verfügungen die Spatzen von den Dächern, dass man danach nicht sofort wieder einen normalen Alltag würde wiederherstellen können.

Aber die Leute sind halt größtenteils keine Virologen, oft nicht mal Medinziner oder andere Wissenschaftler. Tun aber so. Da wird in einer Gemeinde eine Sitzbank abgebaut, die in weniger als 50 Meter Entfernung zu ner Dönerbude steht, damit sich da halt keiner zum Essen draufsetzt. Das soll man nicht in einem Umkreis von 50 Metern. Kostet einen dreistelligen Betrag Bußgeld. Nennt mich ein Schlafschaf, nennt mich einen blöden Untertan. Aber in dieser Situation, wo man sowieso schon Schwierigkeiten hat, alle bußgeldbewährten Taten auf dem Schirm zu haben, empfinde ich es fast schon als Service der dortigen Verwaltung, gewissermaßen mit dem Holzhammer (oder in diesem Fall wohl eher Schraubenschlüssel) darauf hingewiesen zu werden, dass ich da nicht sitzen sollte, auch in meinem eigenen Interesse.

Im Netz erntet sowas trotzdem massive Empörung. Natürlich. Und natürlich kriegt die Gemeinde die Kritik ab. Dabei versucht die einfach nur, den Aufwand im Rahmen zu halten. Natürlich kann man auch 24-7 Polizei neben die Sitzbank stellen, statt sie einfach abzubauen. Klar, Polizei hat ja auch sonst nichts Wichtiges zu tun momentan.

Urheber dieser Regelung ist das Land, nicht die Gemeinde. Diskutiert wird, ob der Abbau der Bank sinnvoll ist. Diskutieren könnte und sollte man, ob dieses 50-Meter-Essverbot sinnvoll ist. Ich bin da zwiegespalten. Eigentlich ist diese Regel überflüssig, da man ja ohnehin Abstand zu halten hat. Im Einzelfall ist sie sogar absurd. Wer zum Beispiel durch den Drive-In bei McDonalds fährt und anschließend dort auf dem Parkplatz in seinem Auto seinen 1-Euro-Burger isst, verstößt gegen diese Regel, obwohl er sich eigentlich vorbildlich verhält. Also, virologisch gesehen, nicht unbedingt kulinarisch. Aber der tiefere Sinn ist natürlich klar: Man hat Regeln aufgestellt, die die Zusammenkünfte von Menschen verhindern sollen, weil man Menschen offensichtlich für zu doof hält, das alleine hinzukriegen. Und wahrscheinlich ist das keine völlig unberechtigte Annahme – vor allem war sie es aber zu Beginn der Beschränkungen (und aus dieser Zeit stammt diese Regel ja) nicht, denn noch vor vier Wochen fanden wir Abstand halten völlig skurril, war das etwas völlig Neues für uns.

Inzwischen nicht mehr. Vielleicht käme man jetzt ohne solche Zusatzregeln aus. Vielleicht auch nicht – ich weiß es nicht und bin ganz froh, dass ich das auch nicht wissen muss. Wo diese Zusatzregeln aber absolut keine nennenswerten negativen Auswirkungen auf irgendwen haben, sind sie für mich auch echt kein Problem. Und genau so einen Fall haben wir bei der bescheuerten Sitzbank, die dann jetzt halt mal ein paar Tage weg ist, doch wohl.

Bei der Bank in München, auf der man laut Polizei München selbstverständlich kein Buch lesen darf, würde ich das übrigens schon wieder etwas anders bewerten wollen…

Anderes Beispiel: Schon wieder wurden Infektionen in Altenheimen entdeckt. „Funktioniert ja gut, der Schutz der Risikogruppen“. Ja, Schlaubi. Weil der Schutz von Risikogruppen gar nicht das zentrale Ziel ist, auf das man sich momentan konzentriert. Dieser Schutz muss vor allem von den Leuten vor Ort gewährleistet werden (von wem auch sonst) und ist komplett sicher einfach nicht möglich. Aktuell ist er wegen der allgemeinen Beschränkungen dafür wahrscheinlich wenigstens wesentlich einfacher, als er es sonst wäre. Aber was eigentlich grade veranstaltet werden soll ist, die Ausbreitung des Virus zu verlangsamen – und zwar allgemein, nicht speziell bei den sogenannten Risikogruppen, bei denen sowieso niemand genau definieren kann, wer so alles dazugehört.

Aber natürlich sind das die gleichen Leute, die ganz genau wissen, dass ein ganz besonders toller Schutz dieser Risikogruppen viel, viel sinnvoller wäre, als einfach alles runterzufahren. Die wissen auch ganz genau, dass das viel einfacher wäre, viel billiger und sie haben keine Zweifel, dass das überhaupt möglich wäre.

Es hieße, zum Beispiel Altenheime und das Personal dort hermetisch vom Rest der Welt, inklusive ihren Familien abzuschotten. Was daran einfach, geschweigedenn machbar sein soll, habe ich noch nicht verstanden. Man kann sowas weitestgehend versuchen umzusetzen (und tut das jetzt grade bereits) aber wird nie absolute Abschottung auf die Kette kriegen können.

Auch hier sorgt die Anmaßung von Wissen bei unseren 80 Millionen Bundestrainern aber zielsicher dafür, dass sie nicht davon zu überzeugen sind, dass sie eigentlich keine Ahnung haben, was sie da labern.

Naja und so geht es weiter. Jeden Tag kann man eine Million solcher Sachen lesen, wenn man will. Bringt niemanden weiter aber diese Leute können halt ihr umfangreiches Youtubewissen schön zur Schau stellen. Und sich bewundern lassen, was für geile Quellen sie so kennen. Auch wenn die Hälfte davon aus irgendwelchen russischen Trollfabriken kommt.

Weiterhin zu beobachten ist, dass die Digitalisierung voranschreitet. Für die Parteiarbeit bedeutet dass, dass es in dieser Woche eine Veranstaltung der Landtagsfraktion zum Thema Schule gab. Inhaltlich war die mir relativ egal aber es war die erste Veranstaltung ihrer Art, gewissermaßen ein Vortrag des Sprechers für Bildung plus Austausch mit ein paar Kollegen und dabei haben halt um die 100 Parteimitglieder zuhören dürfen. Als Rückkanal gab es eine WhatsApp-Nummer, an die man Fragen senden konnte. Funktioniere recht gut, alles. Nicht ganz verstanden habe ich die Bitte, man möge sein Mikrofon gemutet lassen. Ich hätte erwartet, dass man das bei einem teuren Profitool wie es dieses Circuit, dass dort verwendet wird, nunmal ist, auch einfach so zentral hätte steuern können. Ist entweder nicht der Fall oder sie wussten jetzt nicht so recht wie. Habe mich dann gefragt, warum es dann nicht gleich ein selbstgehostetes Jitsi-System tut, was langfristig wesentlich kostengünstiger gewesen wäre und zumindest solche technischen Hürden gemeistert hätte.

Ebenso habe ich mich das schon bei meinem eigenen Kreisverband gefragt. Dem habe ich gestern eine E-Mail geschrieben und gemahnt, dass wir Corona hin oder her jetzt nicht unsere Arbeit einstellen können. Es kam zurück, dass man durchaus weiter arbeite und jetzt endlich alle „Circuit installiert“ hätten, so dass man demnächst mal eine Videokonferenz machen könnte, zu der dann auch die Ortsverbände eingeladen wären. Schön und gut, wenn das jetzt anläuft. Aber klingt für mich auch schon wieder, als wäre Circuit das Problem gewesen, bzw., das Leute damit erstmal klarkommen mussten. Ich weiß auch nicht, was es da zu installieren gibt. Bei mir läuft das ganz normal im Browser und so sollte es eigentlich bei einer vernünftigen Software auch sein heutzutage.

Aber egal. Jedenfalls kommt die Politik auch an der Basis so langsam mal aus der Schockstarre. Recht spät, wie ich finde. Ich fand uns als Ortsverband schon spät, weil wir nicht unmittelbar nach Verhängen der ersten Maßnahmen Mitte Märze schon mal diese irgendwie thematisiert haben. Aber gut, zu spät ist es wohl auch nicht und wichtig ist, dass jetzt Wege da sind, sich auszutauschen und gemeinsam auf Maßnahmen, Ereignisse und Entscheidungen zu blicken.

Ohnehin ist es spannend, wie diese eine Entwicklung von jetzt auf gleich absolut alles andere unter sich begraben hat. Ich meine, es war ja nicht so, dass wir vor Corona auf Orts- oder Kreisebene keine politischen Themen zu besprechen hatten. Aber was wir da als zu besprechende Probleme begriffen hatten, kommt einem jetzt absurd unbedeutend vor. Und das ist es offensichtlich auch, weil diese Probleme vielleicht nicht von selbst verschwinden, aber eben auch nicht wachsen, nur weil sie jetzt ein paar Wochen oder Monate keine Rolle mehr spielen. Wir haben jetzt andere, größere Probleme. Das sind jetzt noch die Maßnahmen und ihre Durchsetzung, das werden in Kürze aber wirtschaftliche sein und die Frage, wie man mit dem Verlust an Kultur umgeht, der damit wohl einher gehen wird.

Überhaupt – und da komme ich wieder auf die 80 Millionen Bundestrainer zurück: Die idiotischste Variante an Superexperten ist für mich übrigens die, die findet, dass die Maßnahmen alle voll gut, vielleicht sogar noch viel zu wenig weitgehend seien und dass Betriebe, die wegen Corona jetzt aufhören, zu existieren, sowieso gar kein Verlust wären. Das sind nämlich Zombiefirmen, denen es sowieso nicht gut ging und so weiter. Schließlich hätte man ja normalerweise Rücklagen und so weiter.

Klar. Rücklagen, wenn jeder Tag tausende Euro kostet, man aber trotzdem nur ein kleines Restaurant in Hamburg ist, das neben einer nicht gerade geringen Miete auch Personal weiter zu bezahlen hat, das man nicht verlieren möchte. „aBeR eS gIbT dOcH kUrZaRbEiTeRgElD“ bölkt mit der Idiot dann via Facebook entgegen. Ja. Das die Betriebe, die ihre Leute nicht verlieren möchten, trotzdem so gut es geht aufstocken. Und trotzdem ist es so, dass ein Betrieb ohne Einnahmen irgendwann kaputt geht, egal, wie toll seine Rücklagen sein mögen. Keine Ahnung, was daran so schwer zu verstehen sein soll und keine Ahnung, was solche Helden meinen, wie viele „Rücklagen“ man so als Betrieb eigentlich im Kopfkissen haben sollte.

Jeder, der so tut, als könnte man sich auf eine verdammte Pandemie auch nur irgendwie so umfassend vorbereiten, dass man null Probleme mit ihr hat, geht mir einfach auf den Senkel. Weil es einfach so offenkundiger Bockmist ist, weil die Leute im Zweifel selbst nicht mal zeigen, dass sie da vernünftig vorbereitet reingeraten wären (weil sie nämlich zum Beispiel je nach persönlichem Geschmack die zu rigiden oder eben zu laschen Beschränkungen ja gerade kritisieren) und ohnehin, weil sie ja letztlich auch nur nachplappern können, was andere ihnen vorgesagt haben, sie suchen sich aber nunmal die Quellen, die ihnen grade in den Kram passen.

Das machen wir wahrscheinlich letztlich alle so. Ist auch menschlich. Nur bringt es nichts, darauf dann wie blöde rumzureiten. Die Exekutive tut, was sie tut, dafür gibt es sie. Man kann das im Einzelfall falsch finden aber das ändert ja nichts an den Entscheidungen.

Vielleicht liegt da einfach das Problem: Die Leute verstehen Demokratie nicht. Die läuft aber so, dass man erst wählt und sich dann auf Gedeih und Verderb eben dieser mehrheitlich gewählten Exekutive unterwirft. Die hat dann einfach das Kommando. Man kann sie nach einer Weile abwählen, wenn sie sich als schlecht rausstellt. Man kann sie unterwegs jeden Tag kritisieren. Aber man kann sie nicht mal eben so umstimmen, nur weil man alternative Fakten auf Youtube gesammelt hat oder so.

Aber genau deswegen erzähle ich seit so vielen Jahren jedem, der es nicht hören will (es will ja fast niemand hören), dass man bitte, bitte, bitte sein Wahlrecht äußerst verantwortungsvoll wahrnimmt oder ansonsten lieber gar nicht. Dass man sich bitte mindestens das Programm desjenigen aufmerksam durchliest, den man zu wählen gedenkt. Wenn einem das schon zuviel Aufwand ist, spare man sich den Gang ins Wahllokal bitte lieber gleich.

Ich bin gelegentlich Wahlhelfer und weiß, dass das meilenweit von der Realität entfernt ist. Die Leute finden es wahnsinnig witzig, in die Kabine zu gehen und sich dann zum Beispiel über die Größe ihres Wahlzettels lustig zu machen und dumme Fragen zu stellen wie „sagt mir auch, was ich ankreuzen soll?“ Alter, bleib doch einfach zuhause, wenn Wahlen sind und sie dich eigentlich nicht interessieren!

Wie dem auch sei: Ich habe diese Regierung weder im Land noch im Bund gewählt. Aber ich bin mir ihrer Aufgabe bewusst. Und ich bin mir meiner Rolle in dem ganzen Spiel bewusst: Ich darf gerne eine Meinung haben, ich darf die auch äußern, wann, wie und wie oft ich will. Und das mache ich auch. Ferner engagiere ich mich politisch bei einer Partei der Opposition, weil ich vieles falsch finde, was die Regierungen in Bund und Land tun und wie ihre Pläne aussehen.

Aber eines gehört eben nicht zu meinen Aufgaben: So zu tun, als wüsste ich bei einem dermaßen spezifischen Thema wie der Handhabung dieser Pandemie mehr oder besser Bescheid, als die Regierung, deren Aufgabe es jetzt ist, diese Pandemie zu bekämpfen. Weil es eben nicht so ist, weil ich nichts weiter habe als ein diese ganzen öffentliche Quellen, die auch jeder andere hat, von denen etliche aber auch einfach nur Verwirrung stiften wollen und die übrigens auch die Exekutive zur Verfügung hat – nur eben erweitert um ein paar tausend Fachleute.

Natürlich sind da Irrtümer nie auszuschließen. Und ich bin sicher, dass die Regierung haufenweise Fehler macht aktuell. Aber sorry, das liegt in der verdammten Natur der Sache. Wer arbeitet, macht Fehler und wer viel arbeitet… naja und wer viele Entscheidungen trifft, der trifft eben auch mehr falsche Entscheidungen. Ist so. Gilt aber auch für jegliche andere Strategie.

So zu tun, als gäbe es nur eine einzige empirisch belegte richtige Strategie, ist falsch und nervig und gehört ignoriert. Es ist einfach irrelevant, weil absolut nicht beweisbar ist, wie jetzt optimalerweise gehandelt werden müsste.