Man kann sein ganzes Leben in einem kleinen Dorf verbracht haben, glauben, dass man sich so halbwegs auskennt – und trotzdem feststellen, dass man zumindest über die Geschichte dieses Ortes eigentlich gar nichts weiß.
Diese Erkenntnis war für mich keine ganz neue, weil viele historische Begebenheiten in meinem Dorf mir leider lange Zeit nicht so wahnsinnig geläufig waren. Ein Grund dafür ist, dass dieses Dorf sich aufgrund der Elbe alle 1-2 Jahrzehnte extrem verändert, weil die Deiche erhöht werden müssen und damit jedes Mal ziemlich viel verändert wird. Gleichzeitig gibt es eben keine Dorfschule mehr, in der man irgendwas zur Geschichte des eigenen Ortes hätte lernen können, so wie es zum Beispiel meinem Vater noch vergönnt gewesen ist. Den Lehrern in der Kreisstadt ist die Geschichte der Winsener Dörfer entweder komplett unbekannt oder sie lehren sie aus praktischen Gründen nicht, weil es wahrscheinlich jeden Lehrplan sprengen würde, die Geschichte von 13 Orten und einer immerhin seit dem Mittelalter existierenden Stadt zu vermitteln. Die Schattenseiten des Bildungszentralismus…
Zum Glück gibt es aber ja noch so Leute wie Otto Melchert, die diese ganzen geschichtlichen Details in sich aufsaugen und hin und wieder vor Publikum von sich geben.
Zum ersten Mal jedenfalls in meiner Wahrnehmung (aber sicher nicht zum ersten Mal generell) tat er das relativ ungeplant oder zumindest zur Überraschung der Beteiligten vor einigen Jahren beim Rundgang durchs Dorf, als es an die Bürgerbeteiligung zur Dorfentwicklung ging – und versprühte damals schon so viele interessante geschichtliche Details, dass es mehr einer historischen Führung glich, als dem eigentlichen Zweck. Was den damaligen Gang durchs Dorf im Rückblick wesentlich interessanter gemacht hat, als er ansonsten geworden wäre.
Die letzten beiden Samstage lud Otto dann zu seinem eigenen Dorfspaziergang ein. Es mussten zwei Termine werden, da das Dorf einfach verflucht lang ist. Das Ganze sah so aus, dass man sich am ersten Tag an der Grenze zu Stöckte am Hafen traf und am vergangenen Samstag dann am Ortsschild zu Fliegenberg. Von dort ging es dann jeweils in Richtung Dorfmitte, allerdings wurde wirklich so ca. alle 10 Meter ein Stopp eingelegt und etwas erzählt. Insgesamt waren das über 4 Stunden detailreicher Führung durch das eigene Dorf.
Ich habe hinterher versucht, zu notieren, was mir so im Gedächtnis geblieben ist. Es dürfte nur ein Bruchteil der vermittelten Informationen sein aber ich glaube, ich habe die Interessantesten erwischt.
- Ecke Hoopter Straße/Wiesenweg stand mal die Hoopter Schmiede. Das ist heute bereits mitten in Stöckte aber damals war der Übergang beider Orte fließend und Stöckter und Hoopter Häuser wechselten sich in diesem Bereich ab.
- Der Verlauf der Hoopter Straße (ehemals Hoopter Chaussee) wurde von Napoleon so festgelegt und sollte es gegnerischem Kanonenfeuer schwerer machen, zu treffen. Daher verläuft sie in einer künstlich von ihm dazu geänderten Zick-Zack-Form.
- Im Stöckter Deich befindet sich neben dem Hafen von Hooptern während des zweiten Weltkriegs genutzter kleiner Luftschutzbunker. Bekanntlich trafen damals auch Hoopte einige normalerweise für Hamburg bestimmte Bomben.
- Der Stöckter Hafen hat seinen Ursprung in Hoopte auf der anderen Seite der Werft. Das Hafenbecken entstand zunächst durch Sturmfluten, die auch den Hohen Morgen schufen, wo viel von dem aus dem heutigen Hafen weggespülten Boden geblieben ist. Früher galt der Hafen als Hoopter und Stöckter Hafen, das Ortsschild steht heute noch in der Mitte des Hafens. Der Hafen erhielt durch die Werft auf der Hoopter Seite und den Gütertransport auf der Stöckter Seite seine Bedeutung.
- Zwischen dem Haus neben der Werft und dem Haus am kleinen Hafen stand das Zollhaus, denn hier verlief die Zollgrenze Hannovers. Hier war sinnvollerweise auch die Post. Gasthaus Sievers hieß früher folgerichtig „Zur Post“.
- Das Gasthaus Sievers besteht seit dem 17. Jahrhundert und hatte früher auch eine Lizenz zum Schnapsbrennen.
- Die Zollgrenzen fielen weg, als Hannover preußisch wurde.
- Die Hoopter Schanze wurde bis in den 30-jährigen Krieg hinein genutzt, hier fanden Gefechte zum Beispiel mit Gustav Adolf von Schweden statt und es wurde über die Elbe geschossen. Die Schanze endete irgendwann als Schweinestall und heute ist von ihr nichts mehr übrig.
- hinter dem damals schmaleren Deich mit mehr Vorland bei Sievers stand das „Wiking“-Haus, die Stätte der Wiking-Jugend im Dritten Reich. Auch war hier früher ein Zeltplatz für sogenannte Wanderruderer, die die Elbe entlang fuhren.
- Die Lüneburger hatten früher das Recht, den Lauf der Ilmenau nach Belieben zu ändern und auch ihre Mündung. Die Mündung in Hoopte verlegten sie daher zeitweise nach Laßrönne. Das änderte später eine Sturmflut, nach der man den Lauf nicht mehr änderte.
- An der Schanze gab es früher eine Furt, durch die Hoopte an einem wichtigen Handelsweg nach Skandinavien lag. Aus diesem ist auch die Fähre entstanden, bzw. die Fährverbindung, die früher durch verschiedene Fährunternehmen befahren wurde. Auch die Hoopter hatten früher Boote, um auf der anderen Seite einzukaufen, Erledigungen zu machen oder auch sich – illegal – als freischaffende Fährleute für Mensch und Material zu verdingen.
- Es existiert ein Gemälde der Hoopter Fähre auf zwei Suppentassen, die der Regent von Hannover anfertigen ließ. ein Exemplar befindet sich heute noch in Hannover, das andere in London, wo es dem britischen König zum Geschenk gemacht worden ist.
- Ebenfalls auf Höhe Sievers fand das Hoopter Gefecht des zweiten Weltkriegs statt. Hier standen die Engländer mit Panzern. Dem deutschen Kampfkommandant auf der Hamburger Seite, Alwin Wolz ist die Aussichtslosigkeit der Lage bewusst. Wohl um dem Befehl, Hamburg bis zum letzten Mann zu verteidigen, offiziell nachzukommen, lässt Wolz Ende April zwei kleine Angriffe auf die südlich gelegenen Ortschaften Hoopte und Vahrendorf unternehmen, die sich bereits in britischer Hand befinden. In Hoopte entstanden dadurch Brände. Die Engländer hielten einige der Hoopter Feuerwehrleute wegen ihrer schwarzen Helme möglicherweise für SS-Mitglieder und setzte sie mehrere Tage (10?) fest.
- Sucht man beim Imperial War Museum nach Hoopte, findet man zwei Fotos britischer Soldaten und auch Panzer, die höhe sievers gasthaus am deich stehen
- Hoopte war sowohl nach dem 1. als auch nach dem 2. Weltkrieg die Heimat vieler Flüchtlinge, die danach teilweise nach Übersee ausgewandert sind, teilweise auch bis heute in Hoopte und Umgebung geblieben sind.
- Der Geestwiesenweg war früher der Weg, über den Landwirte zum Beispiel aus Scharmbeck ihr Vieh auf ihre Wiesen in der Marsch getrieben haben.
- Behr (heute Fischerhütte) war „Hoopte 1“, die ursprünglichen Höfe bis Hillermann (14) waren so durchnummeriert.
- Nahe der Dorfmitte steht noch heute das alte, allererste Hoopter Feuerwehrhaus. Das nur ein kleiner Schuppen am Deich war, der heute als Garage genutzt wird. Im Untergeschoss befand sich der Dorfknast, wo man gerne betrunkene Randalierer über Nacht unterbrachte.
- Neben dem alten Feuerwehrhaus stand früher ein Gasthaus, dass unter anderem die Feuerwehr als Vereinsheim nutzte. Hier soll Johannes Brahms einmal einen Hoopter Chor dirigiert haben.
- Der Sportplatz war früher ein Brack.
- Am heutigen Hoopter Sportplatz 1 lebte früher die Bestatterin.
- Dort, wo heute das Feuerwehrhaus steht, stand früher ein Haus, durch das beim Aufspülen des Sportplatzes große Schläuche liefen, durch die das Schüttgut aus der Elbe gespült wurde.
- Am heutigen Hof Rower war früher der Milchwagen untergebracht, der die Milch im Dorf einsammelte und zur Molkerei brachte.
- Neben der alten Schule war die Bäckerei Bürger, daneben befand sich die Molkerei, die auch wichtig für die Bauern der Nachbardörfer war. Heute befindet sich hier die Malerei Harms.
- Das ehemals älteste Haus von Hoopte befand sich auf dem heutigen Grundstück von Dieter Meyer und wurde nach dem 30-jährigen Krieg gebaut. Es musste Anfang der 60er Jahre abgerissen werden, um der Deicherhöhung Platz zu machen.
- Im 30-jährigen Krieg verwüsteten die Dänen Hoopte, nahmen das Vieh und die Kinder mit und brandschatzten das Dorf.
- Am Hof Hillermann waren allein zwei Knechte angestellt für die Arbeiten am Deich.
- Hinter Hillermann errichtete man nach der Zeit der Franzosen mehrere Katen in einer Reihe. Die letzte stand am „Katende“, die Straße hat daher ihren Namen.
- Am Katende befand sich ein weiteres, heute zugeschüttetes Brack.
- Beim Gasthaus Ruschmeyer waren im Krieg polnische Zwangsarbeiter eingesperrt.
- Am Siel befand sich im 19. Jahrhundert eine Dampfmaschine, die es antrieb. Später wurde auf Elektromotoren umgestellt. Hier befand sich auch das erste Kühlhaus von Hoopte.
- Neben der heutigen Straße „Am Siel“ stand der Laden der Wischendorfs. Er existierte über 100 Jahre und schloss Anfang der 1990er.
- Die beiden Werften auf diesem Dorfende entstanden erst nach der Werft am Hafen.
- Boote waren für die Hoopter schon immer sehr wichtig, da die Wege zu Land früher oft nicht passierbar waren und man so auf der anderen Elbseite Erledigungen machen konnte. Es wurde dort natürlich auch gefeiert und gelegentlich auch geheiratet.
- Mit Kähnen wurden auch landwirtschaftliche Produkte über die Gräben, Wasserwege und die Elbe transportiert.
- Anfang und Ende des Dorfes sind geschichtlich nicht ganz genau zu ermitteln. Sowohl nach Stöckte hin als auch nach Fliegenberg hin standen lange Zeit Hoopter und Stöckter, bzw. Fliegenerger Häuser im Wechsel. Klare Dorfgrenzen wurden erst im 20. Jahrhundert gezogen, teilweise nach langen Verhandlungen.
Otto hat schon mal angeteasert, dass er eventuell noch mal einen Vortrag ohne Spaziergang ausarbeiten möchte, weil viele ältere Hoopter einfach nicht mehr gut genug zu Fuß sind, als dass sie hier hätten teilnehmen können. An den Spaziergängen haben beide Tage so 30-40 Leute teilgenommen, beim zweiten Termin waren es sogar noch etwas mehr. Kam also bestens an und war nicht nur für verhältnismäßig junge Hoopter wie mich sehr interessant, der ich Vieles (wie das Brack, dass sich direkt vor meinem Haus befand) wirklich nur aus Erzählungen und den wenigen alten Fotos kannte.