Es ist 8 Uhr morgens und ich bin verkatert. Das Hotel hat nämlich eine Bar. Die Bar hat günstiges Bier und so ging es halt ein wenig länger gestern. Unsere erfolgreiche Ankunft in Europas Hauptstadt will ja schließlich gefeiert werden. Bier können sie, die Belgier. Wenn man nicht gerade ein Reinheitsgebotsfetischist ist.
So bricht an einem Septembermorgen des Jahres 2011 also ein für mich leicht benebelter zweiter Tag in Brüssel an. Ich bin zum ersten Mal in dieser Stadt und mit einer Reisegruppe auf Einladung eines Abgeordneten hier. Also letztlich auf Kosten des Steuerzahlers, der sowas dankenswerterweise mehrmals im Jahr bezahlt. Nobel von Dir, Steuerzahler!
Ich versuche schnell fit zu werden, denn heute geht es ins Parlament!
Wobei… kann man da noch von Parlament sprechen? Himmel, das Ding ist flächenmäßig größer als die Winsener Innenstadt!
„Einwohner“-technisch kommt es auch an eine Kleinstadt ran: 15.000 Menschen plus Besucher bevölkern den Komplex und seine Gebäude wirken in etwa so „bürgernah“, als entstammten sie direkt den orwellschen Düster-Phantasien aus „1984“. Größenwahn trifft hier auf offensichtlich üppige Budgets, Albert Speer hätte seine helle Freude daran gehabt.
Denke ich noch so, bis wir reingehen – und ich kurz über die im Vergleich dazu absurd winzige Drehtür schmunzeln muss. Jeder olle Karstadt hat da größere, zum Teufel. Wen wollt Ihr denn hier bloß verarschen mit diesem albernen Understatement?
In der Eingangshalle verweisen stilsicher mit Comic Sans beschriftete Schilder auf den Ausgang. Von allen Orten, von denen aus man den Ausgang suchen könnte, ist die Eingangshalle garantiert der, an dem man am wenigsten ein solches Schild nötig gehabt hätte. Ich ahne zum ersten Mal: Die haben ja doch Humor hier.
Und beginne, Europa als auf schildbürgerliche Art konsequentes Gesamtkunstwerk zu begreifen.
Gemeinsam mit der Gruppe mache ich mich auf den Weg durch das Raumschiff EU-Parlament.
Wir bekommen viele Räume gezeigt. Ich stelle fest: Kein einziger Ausschuss-Saal ist kleiner als Niedersachsens Landesparlament, manche sind sogar größer als der Bundestag. Die Flure, die diese Räume verbinden, sind groß genug, um hier mehrere hundert Kreistage tagen zu lassen. Und zwar alle gleichzeitig.
Wir lauschen einer Sitzung des Verkehrsausschusses. Es geht um den Eisenbahnverkehr. Michael Krahmer von den Grünen freut sich – nach eigenen Angaben – „ganz außerordentlich“, zufällig dann am Redepult zu stehen, wenn gerade Besucher aus Deutschland da sind, sagt er. Der gewitzte Präsident sammelt spontan Pluspunkte bei mir, in dem er ihn umgehend verbessert: „No, Michael, they are from lower saxony.“ Ich klatsche Beifall. Bis ich merke, dass es außer mir keiner tut.
Ich lausche ein paar Minuten der Sitzung. Die eindrucksvoll zeigt, mit welch prickelnden Details sich so ein Europa-Parlamentarier beschäftigen darf. Es geht wohl um die Harmonisierung der Kupplungstechnik bei Eisenbahnzügen und man diskutiert hier grotesk detailversessen über technische Einzelheiten, die keiner von uns Zuhörern nachvollziehen kann. Während ich mein Gratismineralwasser austrinke sinniere ich noch, ob solche technischen Details nicht doch lieber von Ingenieuren erdacht werden sollten, als von Lehrern und Juristen.
Die Führung geht nach einigen Minuten weiter durch die unendlichen Weiten des Raumschiffs. Ich sehe hier viele Fernseher. An jeder Ecke steht einer. Es sind hauptsächlich Röhrenfernseher. Lange nicht mehr so viele Röhrenfernseher in einem Gebäude gesehen. Offenbar haben sie hier bei all dem Pomp also doch noch irgendeine Albernheit gefunden, bei der sie Sparsamkeit vortäuschen können. Ich verliebe mich einmal mehr in diesen feinsinnigen, selbstironischen Brüsseler EU-Humor.
In einem leeren Sitzungssaal erklärt die Führerin uns noch einmal, wie das Europaparlament „arbeitet“. Es fallen Begriffe wie „demokratischer Reflex“, „delegierte Rechtsakte“, „Schattenberichterstatter“. Wer bis jetzt nicht verstanden hat, warum sich mediale Berichterstattung und Wählerschaft so schwer damit tun, nachzuvollziehen, was im Europäischen Parlament eigentlich so gemacht wird, bekommt eine leise Ahnung, woran das liegen könnte.
In den Ausschusssäälen fallen vor allem die Kabinen für die Dolmetscher auf. Sie erstrecken sich rings um die Sääle. Auf zwei Stockwerken. Denn jede Sprache muss ja in jede andere übersetzt werden. Kreuz und quer. Europa hat verdammt viele Sprachen. Faszinierend, wie man diese wundervolle Vielfalt in einen weiteren bürokratischen Alptraum verwandeln kann, so praktisch nachvollziehbar die Notwendigkeit dieser Dolmetscherarmee auch ist.
So richtig vorgesehen sind Besucher übrigens nicht. Es gibt keine Tribünen in den meisten Säälen. Man sitzt hier stattdessen stets direkt auf voll ausgestatteten Parlamentarierplätzen. Mit Mikrofon und Kopfhörer für den Dolmetscher, Abstimmungskonsole (leider abgeschaltet, ich habs ausprobiert), Kaffeetasse und Miniflasche Mineralwasser.
Die Führung geht weiter und auch die Erläuterungen. Weitere aufschlussreiche Details werden genannt. Es gibt einen Turm für Konservative, Abgeordnete werden mit 7800 netto für ihren harten Job entschädigt. Plus Sitzungsgelder natürlich, hihi. Die Hauspost kommt in großen gelben Kisten. „Munitionskisten,“ sagt die Mitarbeiterin des Abgeordnetenbüros. „Wir haben das mal gegoogelt.“ Macht Sinn, denke ich bei mir. Herrlich, dieser Brüsseler Humor.
Das Parlament zahlt keine Mehrwertsteuer, denn es gilt als exterritorial, sagt sie. Wenn nicht sogar als extraterrestrisch, murmele ich leise. Jetzt zeigt uns die Mitarbeiterin die bayerische Landesvertretung. „Spitzname: Schloss Neu-Wahnstein,“ merkt sie vor Vergnügen glucksend an. Als wenn Leute, die ausgerechnet hier arbeiten, irgendeinen Anlass hätten, dieses „Schloss“ lächerlich zu finden.
Es geht schließlich Richtung Ausgang. Vorher noch Erinnerungsfoto vor dem EU-Fahnenmeer und dem Andenkenshop. In letzterem erwäge ich kurz, ein EU-Sparschwein mit Europafahne auf dem Bauch zu kaufen, weil mir auch hier wieder diese Selbstironie so gut gefällt. Die Burschen wollen für das gute Stück nämlich 15,90 Euro haben. Jaja, denke ich mir still, Europa hat nicht nur seinen Wert, sondern auch seinen Preis.
Ich spare das Geld für das Schwein und lege das Geld lieber anschließend beim Besuch im „Café Delirium“ in Starkbier an. Der mündet bald in einem feuchtfröhlichen Abend und das „Delirium“ macht seinem Namen alle Ehre. Meine letzte Erinnerung, bevor alles verschwimmt: Ich singe gemeinsam mit meinem Zimmergenossen zwei Engländern die „Kaiserhymne“ vor, die schier ausflippen vor Begeisterung, als sie „ihre“ Nationalhymne mit einem deutschen Text hören. Völkerverständigung kann ich.
Als es am nächsten Tag ins Währungskommissariat der EU geht, bin ich dann doch ganz glücklich über meinen guten Restalkoholpegel. Denn man erklärt uns wortreich und erkennbar selbstverliebt, wie krass man die Sache mit dem Euro hier wirklich im Griff hat. Nüchtern wäre soviel Quatsch nur schwer zu ertragen gewesen. Trotzdem interessant, denke ich derweil, wie viele hier im Gebäude so irritiert auf mein T-Shirt gestarrt haben, auf dem riesengroß „End the ECB“ zu lesen ist. Auch trollen kann ich.
Am Nachmittag fahren wir durch das Baustellenviertel, in dem gerade die Hauptstadt Europas gebaut wird. Denn offensichtlich gibt es immer noch viel zu wenige dieser Regierungs-Protzbauten. An der Zahl und Größe der Baustellen begreift auch der Letzte, dass hier ein neuer Staat entsteht und sich diese Entwicklung nicht aufhalten lassen wird. Was mich zufrieden und besorgt zugleich stimmt.
Denn eigentlich finde ich Europa und auch die EU verdammt gut. Nur seine praktische Umsetzung stimmt mich immer öfter sehr nachdenklich. Und dem konnte auch dieser, mein erster, Besuch in Brüssel nichts entgegensetzen.
Sehenswert ist die Stadt trotzdem. Und gute Pommes haben sie. Leckeres Bier.
Es ist nicht alles schlecht in Europa.