Corona-Tagebuch: Das Drosten-Phänomen

Professor Christian Drosten ist das Phänomen dieser Tage. Kannte bis vor Kurzem kein Mensch, heute ist er zugleich die meistgeachtete und meistgehasste Person Deutschlands.

Und mein Eindruck ist, dass er eigentlich beides nie so richtig gewollt hat. Immer, wenn ich wieder ein krummes Hass-Posting oder einen undifferenzierten Jubelgesang über irgendwas mit ihm im Zusammenhang sehe, schießt mir wieder durch den Kopf, dass das genau das ist, was er immer vermeiden wollte und was letztlich der Grund war, warum er mit diesem Podcast angefangen hat. Denn mit dem wollte er die Zusammenhänge erklären und das ganze Bild vermitteln, statt immer nur verkürzt und missverständlich in den Medien dargestellt zu werden.

Eigentlich ein sehr hehrer Ansatz und der Mann tut das freiwillig, er kriegt da vermutlich auch kein Geld für vom NDR. Aber selbst wenn: Hier geht es um reine Passion, um Engagement für die Allgemeinheit im besten Sinn. Daran ist nichts, aber auch gar nichts auszusetzen.

Nun ist er Wissenschaftler. Er fasst den jeweiligen aktuellen Stand zusammen und versucht ihn sachlich und ergebnisoffen uns zu vermitteln. Auch das ein hehrer Ansatz. Nur: Es ist eben Wissenschaft. Heißt, dass sich der Stand ändern kann. Das wiederum werfen ihm andere vor. Obwohl es das Wesen von Wissenschaft ist, nach der Wahrheit zu suchen und immer weiter zu suchen.

Gemacht wird daraus, er würde „seine Meinung ändern“, was wiederum eine arge Verkürzung, vielleicht sogar böswillige Unterstellung ist. Es ist sein verdammter Job, seine Ansichten zu ändern, wenn sich die Informationslage ändert.

Alles, was Drosten tut, ist eigentlich darauf ausgerichtet, möglichst wenig zu polarisieren. Was er damit erreicht ist, maximal zu polarisieren. Das ist eine interessante Beobachtung. Drosten kann im Prinzip gar nichts dafür, was die Öffentlichkeit aus ihm macht – abgesehen davon, dass er sich nunmal ins Licht der Öffentlichkeit begeben hat. Daran an sich werden aber wohl selbst seine eingefleischtesten Hater wenig finden können, dass sie ihm ernsthaft vorwerfen können. Denn selbst wenn an all diese albernen Unterstellungen, er würde sich dumm und dämlich verdienen durch irgendwelche Tests (was nicht stimmt) was dran wäre, müsste er dazu nicht diesen Podcast betreiben. Die Pandemie wäre auch ohne Drosten als Superstar da. Auch ohne Podcast wäre er einer der weltweit anerkanntesten Corona-Experten und auch ohne den NDR wäre Drosten mit Sicherheit der Typ, den die Bundsregierung jeden Tag anruft und um Rat fragt.

Auszug aus einem zeitgenössischen Interview, dass The Guardian mit Drosten geführt hat.

Ähnlich verstörend wie der teilweise absurde Hass auf den Professor ist allerdings die ebenfalls um sich greifende Vergötterung. Er rettet uns alle, las ich neulich auf Facebook. Nein, man. Er rettet niemanden. Er forscht, das macht er offenbar ganz gut und er erklärt uns und den Regierungen, was Phase ist, welche Optionen es gibt und was mögliche Konsequenzen sind. Das ist alles wichtig, gar keine Frage. Und von mir aus kann man ihm dafür auch noch ein paar Bundesverdienstkreuze und was weiß ich nicht alles verleihen, hat er von mir aus alles verdient. Aber er rettet erstmal niemanden, sondern er berät.

Die Rettung erledigen die, die aufgrund der Krise weniger Geld in der Tasche haben, vielleicht ihr Lebenswerk verlieren, 99% oder ihrer Lebensqualität aufgaben. Die Rettung erledigt jeder, der sich die Hände wäscht, sich von Leuten fernhält und diesen ganzen Quatsch mehr oder weniger ohne zu murren einfach mit trägt.

Drosten ist so wenig Jesus wie der neue Hitler. Und so wie ich ihn unbekannterweise aber aufgrund diverser Äußerungen zum Beispiel in seinem Podcast mittlerweile einschätzen würde, ist ihm das Eine so unangenehm wie das Andere. Er macht seinen Job. Der ist aktuell natürlich sehr viel wichtiger, als er selbst sich das vermutlich jemals gewünscht hätte und natürlich macht er diesen Job offenbar auch wirklich gut. Das ist es dann aber auch. Man möge ihn mit Dankbarkeit überschütten. Aber zum Unter-, beziehungsweise Übermenschen erklären ist nicht nötig.

Unterdessen flacht die Kurve weiter ab. Auch deshalb versteht niemand, warum die Schikanen verschärf werden, statt gelockert. Ja gut, Schulen sollen zu einem albern anmutenden Notbetrieb wieder öffnen, seit gestern sind auch alle Geschäfte wieder auf. Aber gleichzeitig wurde die Maskenpflicht eingeführt. Sie gilt in Läden, Taxen, auf dem Wochenmarkt und im Öffentlichen Nahverkehr. Ausnahmen sind Menschen unter 6 Jahren, Asthmatiker, Herzkranke, Lungenkranke. Achja: Und in Banken sollte man auch ausdrücklich auf das Maskieren verzichten, um nicht für einen Bankräuber gehalten zu werden. Kein Witz!

Ausgenommen sind in Niedersachsen bisher auch Busfahrer, Verkäufer etc., weil man ihnen nicht zumuten mag, 8 Stunden oder mehr mit Maske zu arbeiten. Das kann ich als jemand, der jahrelang sowas tun musste, zwar einerseits verstehen, andererseits aber auch nicht. Zum Einen logisch nicht: Wenn diese Masken was bringen, dann sind sie sicherlich gerade an den Menschen, die noch viele Menschen treffen, am allerwichtigsten und das sind eben Busfahrer oder Verkäufer im Einzelhandel. Zum Anderen habe ich gestern in einer lokalen Facebookgruppe bereits zum Start der Maskenpflicht den ersten Deppen gesehen, der sich tierisch aufgeregt hat, dass Verkäufer einfach keine Masken tragen… man kann den Leuten tausend Mal erklären, dass diese Masken sowieso nicht viel nützen, sobald der Befehl ergeht, dass jeder eine zu tragen habe, halten sie es einfach nicht aus, wenn einzelne keine tragen. Ich wünsche Asthmatikern und anderen, die aus gesundheitlichen und daher sehr verständlichen Gründen keine Maske tragen mögen, viel Spaß beim nächsten Supermarktbesuch.

Die Regierungen machen immer noch den großen Fehler, ihre Strategien nicht offenzulegen. Deswegen drehen die Leute allmählich durch. Keiner weiß, was das Ziel der Verbotsorgie ist, weil niemand sagt, was die Bedingung für ihr Ende sein soll. Beziehungsweise muss man den Eindruck gewinnen, dass diese Bedingungen ständig verschoben werden.

Keine Branche und kein Bürger ist nicht irgendwie betroffen. Airbus hat Kurzarbeit angemeldet und wird erwartbar in eine Krise laufen. Es gehen weltweit Luftlinien pleite, es wird auch nach der Krise erst einmal weniger geflogen werden und so wird es einen ziemlich großen Gebrauchtflugzeugmarkt geben.

In mehreren Städten hat das Gastrogewerbe mit „Leere Stühle“-Demos sein Unverständnis dafür gezeigt, dass nunmehr alles öffnen darf außer der Gastronomie. Sie stellten teilweise hunderte leere Stühle auf Marktplätze.

Eine kleine, selbst mir als angehendem Biernerd bis dato unbekannte, wohl eher kleine Brauerei aus Baden-Württemberg entsorgt grade 3000 Liter Bier in einer Biogasanlage, weil Fassbier natürlich bis auf Weiteres ein Produkt ist, dass zu nichts zu gebrauchen ist.

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Noch vor ein paar Monaten hätte kein Mensch diese zentgenössischen Schlagzeilen verstanden.

Friseure dürfen auch wieder öffnen, müssen ihren Kunden aber die Haare waschen. Heißt für Leute wie mich: Friseurbesuch ist erheblich teurer. Aber ich werde mir das sowieso erstmal schenken. Friseurbesuch mit Maske auf? Muss ich nicht haben. Mal gucken, wie lang ich meine Matte werden lassen möchte, bis ich dann lieber doch mal hingehe…

Bei uns hinterm Haus hat unterdessen die Apfelernte begonnen.

Das ist mal wieder ein längerer Corona-Tagebucheintrag. Liegt auch daran, dass ich übers Wochenende endlich mal Besuch von meiner Freundin und damit besseres zu tun hatte, als die Skurrilitäten des Corona-Alltags festzuhalten. Wir haben uns seit zwei Monaten nicht mehr gesehen. Auch für Fernbeziehungen ist Corona also eine nicht unerhebliche Belastung. Bahnfahren möchte man einfach lieber vermeiden.